Najia Sherzay | Bild: Flavio Leone

«Ich wollte eine Inspiration sein für junge Frauen und sie zum Studieren ermutigen»
Najia Sherzay (36), Afghanistan
Biochemikerin an der EPFL

«Die Türen der Universität Kabul schlossen sich für Frauen 2021 mit einem Schlag wegen der Machtübernahme durch die Taliban. Ich arbeitete damals für mein Doktorat in Malaysia und unterrichtete Biochemie vor Ort in Kabul. Ich zögerte nicht lang: Meine Priorität war, die Ausbildung fortzusetzen, auch wenn ich dafür mein Land verlassen musste. Eine Freundin hatte mir vom Programm Scholars at Risk erzählt. Mein Antrag wurde innerhalb von nur zwei Tagen angenommen, aber es dauerte eineinhalb Jahre, bis ich Afghanistan mit meiner Familie verlassen konnte.

«Jetzt können Frauen bei uns nicht mehr studieren, weil bewaffnete Männer ihnen den Zugang zu Bildung verwehren.»

Heute arbeite ich als Forscherin an der EPFL. Ich versuche, die verlorene Zeit wettzumachen und meine Ferndissertation abzuschliessen. Parallel dazu erlerne ich die Techniken meines neuen Labors, mit denen ich noch nicht vertraut bin. Ich wurde vom Netzwerk Scholars at Risk und von der EPFL gut aufgenommen. Mein Mann ist ebenfalls Forscher und wird administrativ unterstützt, etwa für eine Aufenthaltsgenehmigung, die ihm erlaubt, zu arbeiten. Wir haben zwei Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren, die zur Schule gehen und gut begleitet werden. Insgesamt fühlen wir uns in der Schweiz wohl, und ich bin froh, dass ich meine Forschung fortsetzen kann.

Dennoch habe ich einen wichtigen Aspekt meiner Motivation verloren. An der Universität Kabul engagierte ich mich aktiv für das Recht der Frauen auf Bildung. In meiner Heimat muss immense Sensibilisierungsarbeit geleistet werden. Dank meiner Position konnte ich Probleme im Zusammenhang mit Diskriminierung oder Belästigung an die Behörden weiterleiten. Ausserdem wollte ich über meine eigene Karriere hinaus eine Inspiration sein für junge Frauen und sie zum Studieren ermutigen. Jetzt geht das nicht mehr, weil bewaffnete Männer ihnen den Zugang zu Bildung verwehren. Dadurch – und das ist noch schlimmer – nehmen sie ihnen auch die Hoffnung. Viele sind entmutigt. Ich tue mein Möglichstes aus der Ferne, zum Beispiel, indem ich Frauen über Stipendien im Ausland informiere.» ef

Emirhan Darcan | Bild: Flavio Leone

«Plötzlich musste ich mich entscheiden: Soll ich etwas Illegales tun, indem ich flüchte?»
Emirhan Darcan (44), Türkei
Mitarbeiter am Institut für Strafrecht und Kriminologie, Universität Bern

«Ich habe bittersüsse Gefühle, wenn ich an meine Flucht denke. Ich komme aus Istanbul und bin europäisch geprägt. Die Schweiz stand für mich immer für Freiheit, Sicherheit und Menschenrechte. Mein neues Zuhause in Bern erfüllt mich daher mit Glück. Meine Frau, meine drei Töchter und ich haben aber eine schwere Zeit hinter uns. Seit dem Putschversuch 2016 wurde die Meinungsfreiheit in der Türkei immer stärker eingeschränkt. Wer dort als Akademiker frei sein will, spricht besser keine Tabuthemen an.

In Ankara war ich wegen meiner Projekte in Gefahr, bei denen ich zur Prävention von Extremismus forschte oder mich für Frauen- und Kinderrechte starkmachte. Ich wurde vom Staat überwacht. Am Ende drohte mir eine Strafe von bis zu 15 Jahren Haft. Einst war ich ein normaler Mann mit Karriere und Familie. Plötzlich musste ich mich entscheiden: Soll ich etwas Illegales tun, indem ich flüchte? Dieser Entscheid fiel mir sehr schwer.

«Allen Akademikern, die der terroristischen Propaganda beschuldigt werden, wird der Reisepass entzogen oder dieser bei Interpol als vermisst gemeldet.»

Allen Akademikern, die der terroristischen Propaganda beschuldigt werden – wie ich –, wird der Reisepass entzogen oder dieser bei Interpol als vermisst gemeldet. Da man mir zudem alle Konten gesperrt hatte, war die Flucht nach Griechenland und weiter in die Schweiz extrem schwierig: teilweise per Autostopp und ohne Geld für Internetzugang. Glücklicherweise durfte ich in der Schweiz meine Familie nachziehen.

Drei Jahre lang lebten wir in acht verschiedenen Flüchtlingsunterkünften – zu fünft in einem 20-Quadratmeter-Raum, inklusive Corona-Pandemie. So lange dauerte es, bis ich dank dem Scholars-at-Risk-Programm eine befristete Forschungsstelle in der Schweiz antreten konnte. Ich erarbeite, wie die Resozialisierung türkischer Häftlinge im Schweizer Strafvollzug nach der Ausweisung im Herkunftsland gelingen kann. Mit einer Familienwohnung, dank Deutschkursen, Mitgliedschaften in mehreren Vereinen und der Unterstützung meines Instituts fühle ich mich hier gut integriert.» kr

Akram Mohammed | Bild: Flavio Leone

«Ich wurde gewaltsam an mir unbekannte Orte gebracht»
Akram Mohammed (43), Jemen
Informatik-Postdoc, Universität Genf

«Meine Schulzeit absolvierte ich in Jemen, meinen Bachelor und Master in der Informatik hingegen in Saudi-Arabien, weil ich Erfahrung im Ausland sammeln wollte. Aus dem gleichen Grund bewarb ich mich 2015 für ein Bundes-Exzellenz- Stipendium der Schweiz, das ich erhielt. Es ermöglichte mir meine Dissertation an der Universität Genf über Informationssysteme. Während ich Genf entdeckte, begann ich auch, mich für die Themen Bildung und Verteidigung der Menschenrechte einzusetzen. Ich nahm mehrmals an Sitzungen des Uno-Menschenrechtsrats teil. Dabei thematisierte ich insbesondere die Menschenrechtsverstösse, die im Jemen-Konflikt durch alle beteiligten Parteien begangen werden.

«Ich wurde aber gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, das mir die Ausreise verbot.»

2018 habe ich in der Stadt Taiz in meinem Heimatland eine Schulung über Menschenrechte gehalten, woraufhin ich festgenommen und vier Tage lang gewaltsam an mir unbekannte Orte gebracht wurde. Danach liess man mich frei, ich wurde aber gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, das mir die Ausreise verbot. Zum Glück half mir mein Vater, Jemen über den Flughafen von Aden zu verlassen, der damals nicht unter der Kontrolle der jemenitischen Behörden stand. Die örtliche Polizei kam danach mehrmals vorbei und suchte mich. Zu Hause drohen mir Verhaftung, spurloses Verschwinden, Folter und sogar der Tod.

Ich habe in der Schweiz meine Doktorarbeit abgeschlossen und politisches Asyl bekommen. Meine Frau und meine drei älteren Kinder konnten 2021 zu mir ziehen. Unser jüngstes Kind ist sogar hier geboren. Alles läuft gut, sie gehen zur Schule und lernen Französisch – schneller als ich! Heute bin ich 43 Jahre alt und Postdoc, spezialisiert auf die Sicherheit im Internet der Dinge. Was als Nächstes kommt? Das weiss ich nicht genau, aber das Netzwerk Scholars at Risk begleitet mich. Ich habe vor, in der Schweiz zu bleiben, ich fühle mich hier wohl. ef

Olha Marinich | Bild: Flavio Leone

«Ich fühlte mich wie ein Tier, das nur noch ums Überleben kämpft»
Olha Marinich (36), Ukraine
Forscherin zu radioaktiven Abfällen, PSI

«An meinem Arbeitsplatz in der Region Kiew wurden die Fenster eingeschlagen, unsere Computer von der russischen Armee geplündert, Wasserversorgung und Heizung zerstört. Im Innern war es eiskalt und wir hatten nur wenige Stunden Strom am Tag. Draussen fand man Sprengvorrichtungen. Noch heute heulen dort fast jeden Tag Sirenen. Es war nicht mehr möglich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren oder auch nur ein halbwegs normales Leben zu führen. Ich fühlte mich wie ein Tier, das nur noch ums Überleben kämpft.

Seit dem Sommer 2022 arbeite ich in der Schweiz an meiner Forschung zur Lagerung radioaktiver Abfälle weiter. Mein wissenschaftlicher Leiter in der Ukraine hatte mir empfohlen, mich für ein Scholars-at-Risk-Stipendium zu bewerben. Konkret ging es um eine Stelle in der Abteilung für nukleare Energie und Sicherheit beim PSI. Ich war sehr froh, dass ich angenommen wurde: ursprünglich mit einem Einjahresvertrag – der seither zweimal verlängert wurde. Ich konnte ab dem ersten Tag eine friedliche Wohnung auf dem Land beziehen. Ich liebe sie!

«Ein normales Leben zu führen, fällt mir schwer, wenn ich jeden Tag Nachrichten über die vielen zivilen Opfer von Bombardierungen erhalte.»

Die Integration ist für mich aber nicht einfach. Ich vermisse meinen Freundeskreis sehr. Manchmal treffen wir uns per Videokonferenz zum Abendessen – ein schwacher Trost. Zum Glück sprechen hier viele Menschen Englisch, sind hilfsbereit und nehmen mich ab und zu mit zum Klettern. Ich lerne auch Deutsch. Aber ich kann meine Gefühle in einer fremden Sprache schlecht ausdrücken. Ausserdem bin ich introvertiert. Meistens bleibe ich doch lieber allein in meinen vier Wänden.

Ein normales Leben zu führen, fällt mir schwer, wenn ich jeden Tag Nachrichten über die vielen zivilen Opfer von Bombardierungen erhalte. Was ich aber schätze: Mein wissenschaftliches Profil profitiert von der Arbeit hier. Und ich weiss, dass ich einen Beitrag zur Sicherheit des künftigen Tiefenlagers leiste. Wie es weitergeht? Ich hoffe, dass ich langfristig bleiben kann. Wenn man mich aber als nutzlos betrachten würde, könnte ich damit nicht leben.» rk

Parwiz Mosamim | Bild: Flavio Leone

«In Afghanistan wäre ich wohl verhaftet worden»
Parwiz Mosamim (29), Afghanistan
Doktorand in Public Administration, Università della Svizzera Italiana

«Nach meinem Bachelor in Journalismus und Kommunikation in Afghanistan habe ich einen Master in öffentlicher Administration in Indonesien und an der ETH Zürich absolviert. Dann habe ich für einige Monate meine Familie in meiner Heimatstadt besucht. Das war im Frühsommer 2021, als die Taliban die Macht übernahmen. Es wurde schnell chaotisch. Ich war bereits für ein Doktorat in Lugano angenommen und verliess mein Land deshalb relativ rasch. Dort hätte ich ohnehin nicht arbeiten können. Schlimmer noch, ich wäre wohl wegen meiner Vergangenheit als Journalist, der die Taliban manchmal kritisierte, verhaftet worden.

Ich wollte im Ausland studieren, Erfahrungen sammeln und eine andere Kultur kennenlernen. Ich hatte eine Finanzierung für die ersten beiden Jahre meiner Doktorarbeit und wurde für das dritte durch Scholars at Risk unterstützt. Das Programm hat mir viele Türen geöffnet. Das gilt nicht nur für mich: In Afghanistan wäre eine ganze Generation bereits in der Ausbildung, sie könnte ihr Studium in Nachbarländern fortsetzen, wenn sie finanzielle Unterstützung bekäme.

«Ich möchte zeigen, dass es wichtig ist, Frauen eine Stimme zu geben.»

In meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der Repräsentation afghanischer Frauen in der öffentlichen Verwaltung. Ich lasse mich natürlich von dem inspirieren, was in meinem Land passiert. Ich möchte zeigen, dass es wichtig ist, Frauen eine Stimme zu geben. Später kann ich mir vorstellen, weiterzuforschen oder bei einer internationalen Organisation zu arbeiten, wo ich meinem Land hoffentlich von Nutzen sein kann, von wo aus auch immer.

Bis dahin habe ich noch eineinhalb Jahre Zeit für meine Doktorarbeit und geniesse die Schweiz mit ihrer Natur und ihrer Gastronomie. Ich werde an der Universität gut betreut und fühle mich gut integriert. Ich helfe meinerseits Landsleuten und bringe meinen Schweizer Kollegen die afghanische Kultur näher.» ef