Foto: Florian Fisch

«Wir leben im ukrainischen Narrativ ­dieses Krieges.» Dieses Zitat aus der Sendung Echo der Zeit von Radio SRF im März 2022 steht beispielhaft dafür, wie der ­Begriff heute verwendet wird: von den ­Medien, als Ausdruck für die Erzählung einer bestimmten Seite mit einer be­stimmten Perspektive auf einen Konflikt.

Der Begriff kommt aus den Kulturwissenschaften. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard nannte die Hauptströme westlicher Philosophie wie etwa die Aufklärung die grands récits, die eine bestimmte Erzählperspektive auf bestimmte Ereignisse und Epochen werfen. Im ­Englischen wurden daraus die grand narratives, in Deutsch die Meistererzählungen. Bald wurden auch Ideologien wie der Kommunismus oder der Nationalsozialismus als solche Meistererzählungen ver­standen. In allen Gemeinschaften gibt es diese Geschichten, die durch eine bestimmte Perspektive die Gemeinschaft zu­sammenhalten, aber ausschliessend sind für jene mit einem anderen Blickwinkel. Damit sind wir beim heutigen Narrativ angelangt: Es hält die Kräfte der einen Seite ­zusammen, erklärt aber die anderen zum Bösen.