Durch den "Fall Gurlitt" und die Vererbung seiner Kunstwerke an das Kunstmuseum Bern wurde die Provenienzforschung hierzulande systematischer und transparenter, erklärt die Expertin für Raubkunst Nikola Doll.| Foto: Ruben Wyttenbach

Nikola Doll, der Nationalrat hat die Gründung einer Schweizer Kommission für Raubkunst beschlossen. Wofür braucht es diese?

Die Schweiz hat 1998 gemeinsam mit 43 anderen Staaten die sogenannten Washingtoner Richtlinien zum Umgang mit nationalsozialistischer Raubkunst verabschiedet. Deutschland, Österreich, die Niederlande, Grossbritannien und zuletzt auch Frankreich haben danach Kommissionen eingerichtet, die in strittigen Fällen als Schiedsgremium fungieren sollen. Auch bei uns zeigte sich, dass die Museen und Sammlungen Raubkunstfälle unterschiedlich bewerten. Das Ziel, die Bewertungsmassstäbe anzugleichen, wäre auch aus Sicht der Forschung wünschenswert.

Das Kunstmuseum Bern gilt in Sachen Aufarbeitung als Musterbeispiel – im Gegensatz zum Kunsthaus Zürich, das für den Umgang mit der Kunstsammlung Bührle heftig in der Kritik stand. Woher kommt der unterschiedliche Umgang?

Die Fragen sind: Handelt es sich um ein grosses Museum mit entsprechenden Kapazitäten oder um ein kleines Haus? Gibt es Bestände mit unbekannten oder unbelegten Eigentumswechseln im Zeitraum von 1933 bis 1945? Besteht bei Werken bereits ein Verdacht auf NS-Raubkunst oder liegen gar Rückgabeforderungen vor? Die Annahme der Erbschaft von Cornelius Gurlitt mit rund 1600 Werken im November 2014 hat das Kunstmuseum Bern gewissermassen gezwungen, sich diesen Fragen aktiv und transparent zu stellen.

Der Raubkunst auf den Fersen
Nikola Doll leitet seit 2017 die Abteilung Provenienzforschung am Kunstmuseum Bern. Sie hat 2017 und 2018 Ausstellungen zum Gurlitt-Erbe kuratiert und entwickelt derzeit die Ausstellung «Gurlitt. Eine Bilanz» (Kunstmuseum Bern, 16.9.2022–15.1.2023). Doll war wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsprojekts «Geschichte der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus» und hat unter anderem die Ausstellung «Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930–1945» (Deutsches Historisches Museum, Berlin 2007) kuratiert.

Hat die Provenienzforschung durch den Fall Gurlitt generell einen Schub bekommen?

Mit dem sogenannten Schwabinger Kunstfund, wie die Entdeckung von Kunstwerken im Besitz Gurlitts in Deutschland zunächst bezeichnet wurde, wurde der nationalsozialistische Kunstraub und damit die Provenienzforschung 47 zu einem öffentlichen, gesellschaftspolitischen Thema. Mit Annahme des Erbes Gurlitt durch das Kunstmuseum Bern fand das Thema auch in der Schweiz öffentliche Resonanz. Für das Museum war dies mit dem Aufbau einer systematischen Provenienzforschung und einem transparenten Umgang mit den Erkenntnissen verbunden. Aus diesem Grund hat es im vergangenen Jahr die Datenbank «Der Nachlass Gurlitt» veröffentlicht. Im Jahr 2014 stellte sich in der Schweiz aber auch allgemein die Frage, was seit Verabschiedung der Washingtoner Prinzipien 1998 und dem Bericht der Bergier- Kommission passiert war.

Und wie hat die offizielle Schweiz reagiert?

Eine Reaktion war, dass das Bundesamt für Kultur seit 2016 Fördergelder für Provenienzforschung an Schweizer Museen vergibt.

Nun gibt es ja viele Arten, wie Kunstwerke zur Zeit des Nationalsozialismus die Besitzenden gewechselt haben – Enteignung, Notverkäufe, aber auch den regulären Kunsthandel …

Der Kunstraub der Nationalsozialisten beruhte nicht allein auf Konfiskationen, also entschädigungslosen Einziehungen. Durch Gesetze, Verordnungen oder Sondersteuern entzog der deutsche Staat Juden und auch Regimegegnerinnen sukzessive die Existenzgrundlagen. In diesem Zusammenhang kam es zu Veräusserungen von wertvollen Gegenständen, wie etwa Kunstwerken oder Schmuck. Provenienzforschung rekonstruiert dann die Umstände, unter denen das Objekt in den Handel gelangte. Wurde es freiwillig veräussert, unter Druck oder Gewalt oder weil die Eigentümerinnen durch die Verfolgung in wirtschaftlicher Not waren?

«Mit der Betonung der Berufsverbote durch das nationalsozialistische Regime machten sich ehemalige Akteure zu Opfern und stellten sich auf die gleiche Stufe wie diejenigen, die tatsächlich verfolgt wurden.»

Geht es in der Provenienzforschung auch um die Situation der Kunstschaffenden damals?

Ich denke dabei insbesondere an die Aktion «Entartete Kunst». Im Rahmen dieser Aktion wurden Kunstwerke der Moderne aus deutschem Museums- oder Sammlungsbesitz eingezogen – auf Weisung von Adolf Hitler, durch das Propagandaministerium umgesetzt und im Mai 1938 durch ein Gesetz legitimiert. Bei der Aktion «Entartete Kunst» handelte es sich um eine kunstpolitische Massnahme, die die Museen treffen sollte. Künstlerinnen und Künstler blieben davon verschont.

Wurden Künstlerinnen nicht teilweise mit einem Berufsverbot belegt?

Der nationalsozialistische Staat kontrollierte das kulturelle Leben durch die Reichskulturkammer, die im September 1933 gegründet wurde. Wer als bildende Künstlerin oder Kunsthändler tätig sein wollte, musste Mitglied der Kammer sein. Regimegegnern war die Mitgliedschaft in der Kammer verwehrt. Nach Erlass der sogenannten Nürnberger Gesetze im September 1935 wurden alle Jüdinnen und Juden daraus ausgeschlossen. Explizite Berufsverbote wurden hingegen selten ausgesprochen.

Es wird aber weitgehend angenommen, dass es solche Berufsverbote gab …

Dass das nationalsozialistische Regime Berufsverbote ausgesprochen habe, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg oft betont. Damit machten sich ehemalige Akteure zu Opfern und stellten sich auf die gleiche Stufe wie diejenigen, die tatsächlich verfolgt wurden. Ein Beispiel dafür ist auch Hildebrand Gurlitt, der seine Tätigkeit als Kunsthändler während des Nationalsozialismus einseitig als Rettung der als entartet diffamierten Kunst der Moderne darstellte. Dabei schwieg er aber über seinen Handel in den während des Krieges besetzten Gebieten und über seine Ankäufe für den «Sonderauftrag Linz», also Hitlers sogenanntes Führermuseum, oder seine Ankäufe von verfolgten Juden.

«Provenienzforschung betrifft auch Kunstraub der Gegenwart; etwa die Plünderungen von Museen im Irak-Krieg oder Raubgrabungen während des Krieges in Syrien.»

Der Begriff Provenienzforschung wird praktisch immer mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Warum?

Provenienzforschung gehört seit jeher zur Kunstgeschichte, zur Geschichte der Museen und des Kunsthandels. In den 1998 verabschiedeten Washingtoner Prinzipien ist festgehalten, dass der nationalsozialistische Kunst- und Kulturgutraub ein wichtiges Element des Genozids war. Dadurch haben sich die Anforderungen an die Recherche und den Umgang mit den Erkenntnissen verändert. In den vergangenen Jahren hat sich Provenienzforschung aber auch zum Beispiel zu sozialistischem Vermögensentzug in osteuropäischen Ländern durchgesetzt.

Der Begriff findet sich auch beim Kulturraub im kolonialen Kontext.

Richtig. Inzwischen ist Provenienzforschung auch bei Kulturgutverlagerungen und Entzugsvorgängen in kolonialem Kontext etabliert und wird vom Bundesamt für Kultur gefördert. In den heutigen Staaten der ehemals kolonialbesetzten Gebiete beispielsweise des afrikanischen Kontinents oder Asiens gibt es ein Bewusstsein für den Verlust von Kultur und Kulturgütern durch den Kolonialismus und einen Anspruch auf die Rückgabe von geraubten Artefakten. Provenienzforschung betrifft aber auch Kunst- und Kulturgutraub in unserer Gegenwart; etwa die Plünderungen von Museen im Irak-Krieg oder Raubgrabungen während des Krieges in Syrien.

«Bei Hinweisen auf NS-Raubkunst können die Recherchen mitunter mehrere Jahre beanspruchen.»

Wird Provenienzforschung je abnehmen können?

Eigentlich ist bei Eigentumswechseln eine unvollständige Provenienz der Normalfall. In seltenen Fällen sind die Handwechsel von der Entstehung eines Artefakts bis zur Gegenwart durchgängig bekannt und mit Quellen belegt. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden mit diesem Ausmass an Raub und Zerstörung von eindeutigen Belegen für ehemaliges Eigentum stellt uns jedoch vor signifikante Schwierigkeiten, und jede Lücke provoziert Fragen. Ein Forscher kann pro Jahr maximal Basisabklärungen für 100 Kunstwerke mit Provenienzlücken im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 seriös durchführen. Bei Hinweisen auf NS-Raubkunst nach den Basisrecherchen können die weiterführenden Recherchen mitunter auch mehrere Jahre beanspruchen.

Also wird Ihnen und Ihren Kolleginnen die Arbeit nie ausgehen?

In der Praxis werden Kunstwerke mit ungeklärter Provenienz regelmässig neu überprüft, da sich etwa durch die Erschliessung neuer Archive oder die digitale Zusammenführung von Daten neue Erkenntnisse ergeben können oder neue Suchmeldungen in den Datenbanken Lost Art oder Art Loss Register publiziert werden.