Bei Pully VD schimmt die Forschungsstation Léxplore auf dem Genfersee. Von ihr aus erweitern Forschende die Horizonte der Limnologie. | Foto: Sébastien Agnetti

Vom Hafen in Pully aus erreicht Guillaume Cunillera nach nur fünf Minuten Fahrt die Forschungsplattform Léxplore, die 570 Meter vom Ufer entfernt verankert ist. Das schwimmende Gebäude ziehe immer wieder Vögel und Enten an, wie der Techniker bei der Überfahrt berichtet. Vor allem aber ist sie ein Magnet für Forschende, etwa 100 von ihnen arbeiten auf der Plattform an rund 30 Projekten. «Dieses 100 Quadratmeter grosse schwimmende Labor ist weltweit einzigartig», erklärt Bastiaan Ibelings, Professor für mikrobielle Ökologie an der Universität Genf und Mitglied des Leitungsausschusses für Léxplore.

«Bisher hatte die Witterung einen grossen Einfluss auf die Durchführung von Messungen.»Bastiaan Ibelings

Das Labor ist mit Hightech-Instrumenten ausgestattet, die eine kontinuierliche Messung physikalischer, chemischer und biologischer Parameter des Sees ermöglichen, und es bietet alle Voraussetzungen für eine sehr präzise zeitliche und räumliche Auflösung der Messdaten. Ibelings erklärt, warum die 2019 eröffnete Plattform so besonders ist: «Bisher hatte die Witterung einen grossen Einfluss auf die Durchführung von Messungen. Dabei wurden Prozesse, die in der Nacht ablaufen, seltener berücksichtigt.»

Vor allem aber seien Daten bei Routineüberwachungen nicht in genügend kurzen Abständen erhoben worden, um der Dynamik im See wirklich gerecht zu werden. «Dank dieses Labors verfügen wir über mehr Daten und können uns ein genaueres Bild darüber machen, was im See passiert», meint Ibelings.

Zehn Minuten bis zum Seegrund

Die Demonstration folgt unmittelbar: Neben der Routinearbeit – Überwachung der Instrumente und Computer, Überprüfung des Batteriezustands, Kalibrierung der Sensoren – besteht eine der Aufgaben von Techniker Cunillera an diesem Morgen darin, mit einer Sonde Werte von allen Tiefen des Wassers zu messen. Dazu lässt sie der Techniker mit einer Winde in den See hinab. Bei einer Geschwindigkeit von 20 Zentimetern pro Sekunde erreicht die Sonde den Boden in rund zehn Minuten.

Während ihres Tauchgangs misst sie ständig die verschiedenen Parameter der Wassersäule: Temperatur, pH-Wert, Sauerstoffkonzentration und Leitfähigkeit. Das ist in der Limnologie zwar eine klassische Messung und der Techniker führt sie routinemässig durch, doch hier ergänzt er damit die Messreihen, die zwei Systeme der Plattform automatisch alle drei bis sechs Stunden aufnehmen, also muss er seine Messungen ebenso oft durchführen. Durch diese Fülle an Daten lässt sich beispielsweise die physikalische und chemische Dynamik der produktiven Zone des Sees präziser quantifizieren.

«Wir haben untersucht, warum das Algenwachstum der Seen trotz drastisch gesunkener Phosphorkonzentrationen stabil geblieben ist.»Natacha Tofield-Pasche

Die Plattform Léxplore entstand aus der Zusammenarbeit von fünf in der Genferseeregion tätigen Institutionen. Beteiligt sind die EPFL, die Universitäten Genf und Lausanne, die Eawag sowie Carrtel, das französische Zentrum für limnologische Ökosysteme. Die Infrastruktur steht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ihre Forschungsprojekte zur Verfügung. «Die Idee war von Anfang an, möglichst viele Forschende unterschiedlicher Fachgebiete einzubeziehen, damit wir dieses sich verändernde Ökosystem besser verstehen», sagt Ibelings.

Es sei auch allen wichtig gewesen, möglichst viele Daten zugänglich zu machen. Aus diesem Grund verpflichtet sich das Team von Léxplore, die Daten in Echtzeit zu verarbeiten und auf dem öffentlichen Portal Datalakes zur Verfügung zu stellen. Die Forschenden hoffen, dass sie dank dieser umfangreichen Daten die Schlüsselprozesse im See präziser modellieren und die Auswirkungen der Klimaveränderungen auf den Genfersee besser vorhersagen können.

Forschungsplattform Léxplore: Mit ihr hat die Wissenschaft seit 2019 ein weltweit einzigartiges schwimmendes Labor, ausgerüstet mit Spitzentechnologie. | Fotos Sébastien Agnetti

In der Kabine stehen den Forschenden nicht nur die Einrichtungen eines echten Labors zur Verfügung, sondern sie können mit einem ferngesteuerten Roboter auch den Seegrund beobachten.

Netze hängen über einer kleinen Öffnung (in der gelben Platte), die direkt in den See führt. So können von der Kabine aus wettergeschützt Messungen durchgeführt und Proben entnommen werden.

Eine Sonde taucht direkt von der Brücke aus ins Seewasser. Während ihres Tauchgangs misst sie verschiedene Werte der Wassersäule.

An diesem Tag misst der Techniker Guillaume Cunillera mit einer Sonde eine ganze Palette von Werten entlang der Wassersäule bis zum Grund des Sees.

Seen sind sowohl wichtige natürliche Ressourcen für Trinkwasser, Fischerei und Freizeitaktivitäten als auch äusserst empfindliche Lebensräume. Die Erderwärmung indes erhöht nicht nur die Temperatur des Oberflächenwassers, sondern verändert auch die Stabilität der Wassersäulen. Dies wirkt sich auf die Durchmischung des Wassers und damit auf eine ganze Reihe von Faktoren aus: von der Verfügbarkeit von Nährstoffen bis zur Sauerstoffkonzentration in der Tiefe.

Und das ist nicht alles: Der Genfersee ist mit weiteren Veränderungen wie einer rückläufigen Phosphorkonzentration konfrontiert. «Auf der Plattform wurde untersucht, warum das Algenwachstum der Seen trotz drastisch gesunkener Phosphorkonzentrationen stabil geblieben ist. Das Forschungsteam konnte zeigen, dass Algen bis zu einem kritischen Schwellenwert in der Lage sind, mit weniger Phosphor genauso viel Biomasse zu produzieren. Unterhalb dieses Schwellenwerts sinkt die Primärproduktion proportional zur Phosphorkonzentration», erklärt Natacha Tofield-Pasche, Projektleiterin von Léxplore.

«Neben den Temperaturen müssen wir auch die Energie des Windes berücksichtigen, wenn wir die Auswirkungen der Klimakrise verstehen wollen.»Natacha Tofield-Pasche

Ausserdem konnten die Forschenden einen Jahresüberblick auf die Bewegungen erstellen, die durch Wind- und Temperaturveränderungen im See erzeugt wurden. Sie stellten dabei fest, dass die Durchmischung im Winter dreimal so gross ist wie im Sommer, was vor allem auf die stärkeren Winde zurückzuführen ist. «Dies zeigt, dass wir neben den Temperaturen auch die Energie des Windes berücksichtigen müssen, wenn wir die Auswirkungen der Klimakrise verstehen wollen», so die Forscherin.

Wie wenn man nur alle tausend Jahre beobachten würde

Bastiaan Ibelings befasst sich an Bord vor allem mit Phytoplankton. Er arbeitet dabei mit der Eawag zusammen. Die Entwicklung des Phytoplanktons wird mit einem sogenannten Durchflusszytometer, einem Apparat zum Zählen jeder einzelnen Zelle, und mit Bildern untersucht, durch die sich die Organismen mikroskopisch bestimmen und zählen lassen. Zur Analyse der grossen Datenmengen wird maschinelles Lernen eingesetzt. Die Untersuchungen sollen zeigen, wie Phytoplankton reagiert, und zwar nicht nur auf einzelne sich verändernde Umweltfaktoren, sondern auf eine ganze Reihe interagierender Faktoren, also unter den komplexen Bedingungen der realen Umgebung.

Mit den Erkenntnissen lässt sich die Entwicklung von Seeökosystemen besser verstehen und die Bewirtschaftung von Seen entsprechend ausrichten. In diesem Zusammenhang ist der hohe Output von Léxplore zentral: Aussagekräftige Beobachtungen erfordern häufige Messungen. Die Lebensdauer des Phytoplanktons ist nämlich so kurz, dass zum Beispiel eine nur monatliche Beobachtung des Planktons der Überwachung eines Waldes alle tausend Jahre entsprechen würde.

Die schwimmende Forschungsstation Léxplore ist in fünf Minuten mit dem Boot erreichbar.

Diverse Bojen sichern den Abstand der Forschungsplattform zu den Schiffen. Sie ist bei Pully VD 570 Meter entfernt vom Ufer verankert.

Die Plattform wird für verschiedene wissenschaftliche Projekte genutzt, etwa zur Berechnung des Kohlenstoffkreislaufs. Mit neuen Technologien, aber auch mit gewohnten Hilfsmitteln wird unter realen Bedingungen getestet.

Bastiaan Ibelings, Professor für mikrobielle Ökologie an der Universität Genf, konzentriert sich mit seiner Forschung auf Phytoplankton.

Dank der Forschungsstation Léxplore erweitern neue Daten den Horizont.

Andere Projekte, die seit der Inbetriebnahme der Plattform vor drei Jahren durchgeführt wurden, haben bereits weitere wichtige Erkenntnisse geliefert. Eine Forschungsarbeit der Universität Lausanne zur besseren Quantifizierung des Kohlenstoffkreislaufs konnte die Bedeutung von Wellen für die Kohlendioxidemissionen an der Oberfläche eines Sees dieser Grösse zeigen: Die sechs Prozent stärksten Windereignisse waren für bis zu 25 Prozent des jährlichen CO2-Ausstosses verantwortlich.

In einem weiteren Projekt wurde nachgewiesen, dass potenziell toxische Cyanobakterien das ganze Jahr über – auch und vor allem im Winter – vorhanden sind. Nun wird untersucht, unter welchen Bedingungen sie Toxine freisetzen. Die Plattform wird ausserdem zum Testen neuer Technologien unter realen Bedingungen genutzt: Biosensoren mit Fischzellen für das Messen der Toxizität von Wasser, Roboter für die Entnahme von Umwelt-DNA oder Tests zur biologischen Abbaubarkeit eines neuen Polyesters.

«Der See beansprucht das Material mit seiner Kraft beträchtlich. Mir gefällt an dieser Arbeit, dass kein Tag wie der andere ist.»Guillaume Cunillera

Die Plattform ist nicht nur mit modernsten Instrumenten ausgestattet, auch ihre Sicherheit ist gut durchdacht. Ein von der Kabine aus gesteuerter Roboter erkundet etwa den Seeboden und überprüft den Zustand von Unterwasserobjekten wie Bojen und Verankerungen. Bei Bedarf ist er auch in der Lage, ins Wasser gefallene Gegenstände zu bergen. Ausserdem kann ein Grossteil der Instrumente im Labor per Fernsteuerung bedient werden. Das ist ein grosser Vorteil an Tagen, an denen der Zugang zur Plattform witterungsbedingt schwierig ist.

Auch der Komfort wurde nicht vergessen. «Wir sind fast so gut untergebracht wie im Büro, haben eine Toilette und sogar Matratzen zum Schlafen», meint der Techniker Guillaume Cunillera. «Es ist erfreulich, dass sich in den bald drei Jahren alles so gut eingespielt hat. Auf einer solchen Plattform sicherzustellen, dass alles funktioniert, ist schon eine grosse Herausforderung. Der See beansprucht das Material mit seiner Kraft beträchtlich. Mir gefällt an dieser Arbeit, dass kein Tag wie der andere ist.»