Beim koronalen Massenauswurf der Sonne wird Plasma ins All geschleudert. Das kann Polarlichter verursachen und Satelliten beschädigen. | Foto: SOHO

Neunmal holte die Sonde bislang Schwung an der Venus. Das war auch der Plan der Europäischen Raumfahrtagentur Esa, als sie den Solar Orbiter im Februar 2020 in Richtung Sonne losschickte. «Die Manöver sind schon ziemlich tricky», sagt Säm Krucker, Heliophysiker an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Die Sonde kommt der Oberfläche der Venus ziemlich nahe – bis 550 Kilometer –, wenn sie in ihrem Gravitationsfeld für die nächste Runde zum Ziel beschleunigen soll. «In so einer Phase könnte ein Fehler dazu führen, dass wir den Orbiter verlieren.»

Der Aufwand hinter der neusten Sonnenmission ist immens, die Hoffnungen der Forschenden sind noch grösser: Das Verhalten unseres Muttersterns ist trotz Hunderten von Jahren intensiver Erkundung immer noch mysteriös. So ist nicht bekannt, warum die Sonnenaktivität mit einem elfjährigen Zyklus variiert. Oder warum die Temperatur auf der Oberfläche 6000 Grad beträgt, weiter draussen in der Korona aber bisweilen Millionen Grad.

«Wir bekommen endlich ein echtes dreidimensionales Bild der Sonne.»Säm Krucker

Nach zwei Jahren Flug über Milliarden von Kilometern im Weltall schwenkt der Solar Orbiter derzeit auf eine Umlaufbahn in 42 Millionen Kilometern Abstand um die Sonne ein, etwas weniger als ein Drittel des Abstands zwischen Sonne und Erde. An Bord der 1,4 Milliarden Franken teuren Raumsonde befinden sich zehn Messinstrumente, darunter auch das Schweizer Röntgenteleskop Stix. «Die Esa hat diese Mission seit zwanzig Jahren geplant», sagt Krucker. «Da stecken auch zehn Jahre meines Lebens drin.»

Es ist nicht nur auf persönlicher Ebene für viele Forschende eine gewaltige Mission: Der Solar Orbiter wird 2025 erstmals die Pole der Sonne sehen. Der Satellit kann zudem sozusagen von hinten auf die Sonne schauen und so den gegenwärtigen Blick von der Erde aus komplettieren. «Wir bekommen endlich ein echtes dreidimensionales Bild der Sonne und nicht Projektionen von der Erde aus wie jetzt», sagt Krucker.

Zwei Jahre vor dem Solar Orbiter ist von der amerikanischen Weltraumbehörde Nasa die zweite grosse Mission gestartet worden. Die Parker Solar Probe wird sich sogar bis auf 6,2 Millionen Kilometer an den Feuerball heranwagen – gegen die 1300 Grad heisse Heliosphäre nur durch Hitzeplatten geschützt. «Wir haben den Fünfer und das Weggli», so Krucker. Mit der Parker Probe sollen die von der Sonne wegfliegenden Teilchen des Sonnenwindes am Entstehungsort beobachtet werden. Den direkten Blick auf die Sonne machen die Geräte aber nur mit dem Solar Orbiter mit, der das Gesamtbild zeigt, dafür aber aus grösserer Distanz.

«Das Erkunden der inneren Struktur der Sonne ist wie Musikhören.»Gaël Buldgen

Der Zeitpunkt der Missionen ist gut gewählt: 2019 hat ein neuer Sonnenzyklus begonnen, die Sonne wird in den kommenden Jahren immer aktiver, mit einem Höhepunkt im Jahr 2025. Der Solar Orbiter hat zehn verschiedene Instrumente an Bord. Durch winzige Löcher im nachtschwarzen Hitzeschild des Solar Orbiter blicken die Teleskope auf die Sonne, nehmen Bilder der Oberfläche auf und messen Teilchen und Felder. «Die Sonne schwingt selbst auch», erklärt Krucker. Ihre seismischen Wellen erlauben einen Blick ins Innere, dessen Aufbau nicht vollständig geklärt ist.

Das vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen gebaute Messinstrument wird neue Daten für das in jüngster Zeit wichtiger gewordene Feld der Helioseismologie liefern, das sich bisher nur auf erdnahe Teleskope stützte. «Man kann diese Disziplin mit der Untersuchung eines Musikinstruments vergleichen», veranschaulicht es Gaël Buldgen von der Universität Genf. «Grösse, Form und Zusammensetzung eines Musikinstruments lassen sich aus einer genauen Analyse der Frequenzen und Amplituden der Klänge ableiten, die von diesem Instrument erzeugt werden», so der Helioseismologe. «Das Erkunden der inneren Struktur der Sonne ist wie Musikhören.»

Die Forschenden erwarten hier eine «verwirrend komplexe Partitur », wie Buldgen sagt. Bei den Modellen zeigt sich: Etwas kann nicht mit den bisherigen Annahmen zur chemischen Zusammensetzung der Sonne übereinstimmen. Ziel sei auch, ein neues Sonnenmodell zu entwickeln. Die gängigen Standards stammen aus den 1980er-Jahren und seien «zu grob», so Buldgen. Es geht dabei um Fragen, wie stark etwa die hochenergetische Röntgenstrahlung mit der Sonnenmaterie in tieferen Schichten interagiert.

verdrehte, verknäuelte Magnetfelder

Auch wissen die Forschenden zu wenig über das Magnetfeld und seine dynamischen Veränderungen im Inneren der Sonne. Dort entstehen etwa aufgrund von Rotationen massive und komplex verdrehte, verknäuelte Felder. Reissen Magnetfeldlinien aufgrund der Dynamiken ab und fügen sich neu zusammen, setzt dies enorme Energien frei.

Es ist denn auch das Hauptziel der Missionen, das Magnetfeld der Sonne besser zu verstehen. «Es ist der König der Sonnenatmosphäre», so Heliophysiker Krucker: «Es bestimmt, wo es langgeht.» Das an der FHNW entwickelte Röntgenteleskop spielt dabei eine Schlüsselrolle. Denn im Röntgenbereich lassen sich extrem beschleunigte Teilchen mit hohen Energien gut bestimmen, die mit starken Magnetfeldern in Verbindung stehen. «Stix ist das einzige Instrument, das die Energie der Teilchen während einer Sonneneruption messen kann», so Krucker. Es entstehen beispielsweise Bilder der mit bis zu 40 Millionen Grad Celsius heissesten Region einer Sonneneruption.

Rätselhafte Lagerfeuer

Dreitausend solcher sogenannter Flares haben die Messgeräte bislang bereits im Anflug aufgezeichnet. «Jetzt sehen wir erstmals ins Herz einer Sonneneruption», sagt Krucker. Die Flares können auch mit Teleskopen von der Erde aus beobachtet werden. Dank der zweiten Perspektive, die mit Stix hinzukommmt, können die typischen Bögen nun aber zu einem 3D-Bild kombiniert werden. m Juni 2020 war die Sonde auf halben Erdabstand an die Sonne herangeflogen und lieferte Aufnahmen von winzigen, rätselhaften Lagerfeuern in der Sonnenkorona. Es sind von der Erde aus nicht zu sehende Teile von Sonneneruptionen. Ihr Auftreten kann möglicherweise die mit Millionen Grad Celsius hohen Temperaturen in äusseren Bereichen der Korona erklären. Die Korona heizt lokal auf, wenn Magnetfeldlinien aufreissen und schlagartig Energie freisetzen.

Von den neuen genaueren Daten profitiert auch Lucia Kleint, Astrophysikerin an der Universität Genf. Sie war zuvor schon an der FHNW als Mitglied des Stix-Teams für die Flugsoftware zuständig. Wichtig für ihre Modelle sind genaue physikalische Informationen über den Zustand der Sonne vor, während und nach einer Eruption, und zwar in möglichst allen Bereichen des Lichts von Ultraviolett bis Infrarot. «So können wir verschiedene Schichten der Sonne erfassen und quasi ein 3D-Modell der Sonnenatmosphäre erstellen», sagt Kleint.

«Bei Sonneneruptionen wird in Minuten unvorstellbar viel Energie freigesetzt, vergleichbar mit Millionen von Atombomben.»Lucia Kleint

Die Sonnenforscherin möchte Eruptionen vorhersagen. Auch extreme Ereignisse, bei denen Milliarden Tonnen Materie und elektromagnetisch geladener Teilchen in den Weltraum geschleudert werden – und dabei die Astronauten auf den Raumstationen gefährden und technische Infrastruktur im Weltraum wie Satelliten oder empfindliche Stromnetze auf der Erde lahmlegen können. «Sonneneruptionen sind die energiereichsten Ereignisse im ganzen Sonnensystem. Dabei wird in Minuten unvorstellbar viel Energie freigesetzt, vergleichbar mit Millionen von Atombomben», sagt Kleint.

Es gibt sonnenähnliche Sterne, die noch tausendfach grössere Eruptionen haben, die Astrophysikerinnen wissen bis heute nicht warum. «Könnte es auf unserer Sonne eines Tages zu einer Eruption kommen, die für die Erde eine ernste Gefahr darstellt?», fragt sich Kleint. Um die enormen Datenmengen zu verarbeiten, nutzt sie Methoden des Machine Learning. Die Idee: Tausende von Eruptionen statistisch zu untersuchen, um allgemeine Gesetzmässigkeiten festzustellen. «Wir möchten so viele Daten wie möglich in unsere Berechnungen einbeziehen.»

Wöchentlich kommen derzeit Terabytes an präzisen Beobachtungsdaten hinzu, die Solar Orbiter zur Erde sendet. Und täglich liefert Stix seine Flugdaten und andere Parameter. «Das schaue ich mir jeden Morgen an», sagt Säm Krucker. «Um zu sehen, ob noch alles in Ordnung ist.»