Auf dem Hundesofa schlafen, Duschen unter bewaffneter Eskorte - Dendrologe Paolo Cherubini hat auf seinen Forschungsreisen einige Unannehmlichkeiten erlebt.| Foto Anne Gabriel-Jürgens

«Ich bin ganz sicher kein Hund – auch wenn ich im Wald herumstreune! » Paolo Cherubini grinst bubenhaft. Er ist gerade dabei, in bunten Farben von einer Forschungsreise nach Sibirien zu erzählen. Von dort, wo das Erdöl in solch einem Übermass fliesse, dass die Menschen vor Ort es auch fleissig verheizten. Sie würden in ihren Schlafzimmern schwitzen wie in der Sauna, und sie würden brühheiss baden, bis die roten Köpfe pochten. Die Hitze sei billiger Trost an langen Wintertagen.

Cherubini aber friert: Als er nachts in der Taiga ankommt, um in den nächsten Tagen die Baumringe der Waldföhre rund um Gasfackeln auf den Ölfeldern zu untersuchen – ihn interessiert, wie sich die Hitze auf das Baumwachstum auswirkt –, wird er zusammen mit russischen Förstern bei minus zehn Grad in eine Holzhütte ohne Heizung einquartiert. Wasser zum Waschen und Trinken? In einer rostigen Badewanne vor der Türe. Da greift der Toskaner, der Genussmensch, lieber mit klammen Fingern zum Wodka. Schlafen soll Cherubini dann auch noch auf einer zerfledderten Couch – offenbar der Hundeplatz. «Es beisst immer noch in der Nase», sagt er. «Schrecklich!»

Wenn die Umwelt stresst
Paolo Cherubini ist Senior Scientist für Walddynamik und Dendrowissenschaften am WSL, der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Birmensdorf bei Zürich. Er hat in Florenz Forstwissenschaft studiert und am Botanischen Institut der Universität Basel seinen Doktortitel bekommen. Cherubinis Forschungsinteresse gilt den Schlüsselprozessen hinter dem Baumwachstum und wie sich Umweltstress auf die physiologischen Prozesse von Bäumen auswirkt.

Ähnlich gelitten hat Cherubini an der Elfenbeinküste, wo er zusammen mit einer Studentin Kakaobäume anbohrte, um im Holz nach Spuren der zunehmenden Trockenheit zu suchen. Mitten im Bürgerkrieg, unter die buschartigen Pflanzen gebückt, wird er plötzlich vom Schrei seiner Begleiterin aufgeschreckt. Ameisenangriff! «An diesem Abend duschte ich, trotz der obligatorischen Eskorte von drei Einheimischen mit Machete und trotz der vielen Käfer im Badezimmer, denn es krabbelten immer noch rote Ameisen in meiner Unterhose.»

Wenn der erfahrene Baumringforscher von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) von seinen abenteuerlichen Reisen berichtet, wird eines schnell klar: Da spricht kein Indiana Jones. Wohl fühlt sich der 57-Jährige nicht in der Natur, sondern in der Literatur: Im Blätterwald quasi, am Schreibtisch. In seinem Büro in Birmensdorf türmen sich denn auch die Stapel. Zwanzig Jahre lang war Cherubini Chefredaktor der Fachzeitschrift Dendrochronologia, und er hat fast 300 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.

Cisalpino ist Abenteuer genug

All die Beiträge finden sich hier neben ausgedruckten Fotos von Studierenden und der Familie. Cherubini hat nicht nur eine Leidenschaft für die Baumringdatierung, er ist auch ein sozialer Mann, der das Festen liebt, Freundschaften rund um den Globus pflegt und gerne mal einen Teller randvoll mit sämigem Risotto geniesst.

Sein Arbeitsplatz ist also ein Fundus an Erlebtem – kein Wunder, denn seit 25 Jahren schon forscht Cherubini rund um die Baumjahresringe und hat die Dendrowissenschaft auch international vorangetrieben. Fast genauso lange reist er regelmässig von Zürich nach Pisa und zurück, weil seine Frau in Italien eine Kanzlei hat. Die vielen Fahrten im klapprigen Cisalpino seien ihm eigentlich immer Abenteuer genug gewesen, scherzt er. Auf Expedition gehe er heute nur noch «so wenig und so kurz wie möglich».

«Laien unterschätzen unsere Forschung gern.»

Baumringe sind auch schnell gezählt – könnte man meinen. Jedes Kind hat sich daran schon versucht. «Laien unterschätzen unsere Forschung gern», sagt Cherubini. Doch die Dendrowissenschaft umfasst natürlich mehr: Sie untersucht anhand von Jahrringen Einflüsse der Umwelt auf das Baumwachstum. Das sei knifflige Detektivarbeit, im Feld wie im Labor. Mit einbezogen wird neben der Anzahl an Baumringen auch ihre Breite, ihre Dichte, ihre chemische Zusammensetzung. Die vielen Informationen ergeben dann zusammen ein rundes Bild.

Um Baumproben zu erhalten, drehen die Forschenden feine Bohrkerne per Hand aus den Stämmen heraus. Dem Baum bleibt eine kleine Verletzung zurück, der Wissenschaft Holzspitzen randvoll mit Informationen. Um an dieses heranzukommen, braucht es ein gut ausgestattetes Jahrringlabor. Das WSL führt das zweitgrösste der Welt. Hier werden die stabförmigen Bohrkerne geschliffen, gereinigt, für die Dichtemessung geröntgt oder in ihre Einzelteile zerlegt und unter dem Mikroskop analysiert. «Die Bäume speichern Informationen ab. Wenn man ihre Sprache versteht, kann man sie lesen wie ein offenes Buch.»

Vulkanausbrüche voraussagen

Cherubini springt: von einer Welt zur nächsten. Er liebt die Fülle an Informationen, die er dank seiner Arbeit in sich aufnehmen und speichern kann. Fast so wie einer der Bäume, die er untersucht: «Bei einem Projekt wachst du im Zelt in Patagonien zwischen alten Araukarie-Bäumen auf und kletterst über schwarze Vulkane, beim nächsten wirst du als Experte vor Gericht gerufen.»

Wie ein richtiger Detektiv half Cherubini nämlich einst beim Entlarven einer gefälschte Gasparo-da- Salò-Bratsche. «Wir kamen zum Schluss: Das Holz des Instruments musste aus dem 18. Jahrhundert stammen, also aus einer Zeit lange nach dem Tod des berühmten Geigenbauers im Jahr 1609. Das hat den Wert der Bratsche von 250 000 etwa auf einen Zehntel davon reduziert », sagt der Forscher amüsiert.

«Wir haben als Erste zeigen können, dass die Nanopartikel nicht nur in den Blättern gespeichert werden, sondern in den Stamm wandern und im Holz bleiben.»

Die Dendrowissenschaft sei aus den verschiedensten Wissenschaftsgebieten nicht mehr wegzudenken: Baumringe zu analysieren sei zum Beispiel der einzige Weg, um die Klimabedingungen der Vergangenheit bis zu vor 1000 Jahren genaustens zu rekonstruieren. Manchmal erlauben Cherubinis Projekte sogar einen Blick in die Zukunft: Theoretisch könnte man anhand von Jahrringen nämlich Eruptionen von Vulkanen vorhersagen. Dieser kühnen Idee war der Dendrochronologe am Ätna nachgegangen. Dies, nachdem man nachgewiesen hatte, dass die Bäume an der Flanke des Vulkans kurz vor einem Ausbruch einen mysteriösen Wachstumsschub erlebt hatten.

Cherubini und seine Kolleginnen und Kollegen konnten zeigen, warum: weil die Bäume kurz vor der sichtbaren Eruption Wasser aus dem Inneren des Ätna aufgenommen hatten. Vor dem Magma spuckte er also Wasserdampf in die Luft, was den Bäumen guttat. Zwar ist das Ganze als Frühwarnsystem begrenzt sinnvoll, weil dazu permanent Stammproben genommen werden müssten, doch die chemischen Spuren in den Jahrringen können nun dabei helfen, Vulkanausbrüche zu rekonstruieren.

Aber doch herumstreunen in Wäldern

Cherubini springt weiter: Dann habe er in Xi’an, China, untersucht, wie Nanopartikel von Nadelbäumen aufgenommen würden. «Viele dieser Bäume werden gepflanzt, damit sie die Luftverschmutzung auffangen, als Luftreiniger. Wir haben nun als Erste weltweit zeigen können, dass die Nanopartikel nicht nur in den Blättern gespeichert werden, sondern in den Stamm wandern und im Holz bleiben.» So lassen sich Gebiete und Zeitperioden mit besonders hoher Belastung eruieren.

Immer wieder streift der Dendrochronologe im vollgestopften Raum umher und kramt geschliffene Stammscheiben hervor: in einem Stück Fichte aus den Dolomiten steckt eine Patrone aus dem 1. Weltkrieg, eine andere ist 12 000 Jahre alt und wurde per Zufall in der Zürcher Binz gefunden, die dritte ist ein Stück Olivenholz aus Santorini, überwuchert mit Pilzgeflecht. Einige der Hölzer hat Cherubini selber gesammelt, wenn er doch wieder draussen war. Seine Lust an der Wissenschaft weckte übrigens einst genau das: das Herumstreunen durch die Wälder. Genussvoll, versteht sich, in den Dolomiten. Mit dem erfrischend holzig-warmen Duft der Arven in der Nase. Vom stinkenden Hundesofa in Sibirien noch weit entfernt.