Oliver Müller wurde schon in die Schublade der Verschwörungstheoretiker gesteckt. Doch dann kam seine Dissertation zu Zwerggalaxien. | Foto: Christian Grund

«Wie konnte das nur passieren?» Manchmal fragt er sich das, wenn er kopfschüttelnd auf der Couch sitzt, den Laptop auf dem Schoss, die Sterne im Kopf. «Wie nur?» Als Oliver Müller einst von Ruhm träumte, sah er sich auf weiten Bühnen spielen, als Rockstar Gitarren zerschmettern. Eine grosse Passion war auch das Malen. Heute arbeitet Müller oft daheim. Im Pyjama, weil er sich direkt aus dem Bett in die Materie stürzt. Weil da keine Zeit und kein Raum ist, um sich erst noch umzuziehen. Vielleicht auch, weil es einfach so gut passt, im Pyjama Aufnahmen vom Nachthimmel zu studieren. Oliver Müller ist Astronom. Der Ruhm kam trotzdem.

«Dunkle Materie gibt’s vielleicht nicht.»

Er schreibt nämlich Dinge wie «Dunkle Materie gibt’s vielleicht nicht», widerlegt manches Lebenswerk und greift nichts weniger an als das Standardmodell der Kosmologie und damit die Theorien Albert Einsteins. Mit seiner Forschung galt Müller lange als Underdog, wurde in eine Schublade mit Verschwörungstheoretikern gesteckt. Bis zur Würdigung seiner Dissertation. Darin konnte er zeigen, dass Zwerggalaxien nicht immer chaotisch um die Hauptachse kreisen – wie es das Modell voraussagt und Supercomputer errechnen –, sondern eben anders als erwartet: geordnet, wie auf einem Kinderkarussell. Zwar hatten Forschende schon vorher beobachtet, dass sich die Zwerggalaxie um die Milchstrasse nicht an die Annahme hält. Der junge Astronom konnte nun aber beweisen, dass dies mehr als eine Kuriosität unseres galaktischen Systems ist.

Durchgefallen in Mathe

Wenn man ihn nach seinem Preis fragt, lächelt Oliver Müller und fragt leise: «Welchen?» Tatsächlich erhielt er eine Reihe Auszeichnungen, darunter den Prix Schläfli in Astronomie von der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz oder den Klartext-Preis für Wissenschaftskommunikation. «Die Wertschätzung ist das Schönste daran. Die persönliche Übergabe», sagt er. Manchmal werde es ihm aber auch zu viel. Sogar aufs Cover von Science hat er es geschafft. Dann kommt er wieder ins Grübeln: «Warum ausgerechnet meine Arbeit?»

Kein Wunder: Oliver Müller war ein verkannter Schüler gewesen – nicht etwa bloss schwach in Fächern wie Sport oder Werken, wie Mathe-Genies gern kokettieren. Sondern aus seiner Perspektive «wirklich schlecht». «Ich hatte Mühe, ins Progymnasium zu kommen. Danach hatte ich Probleme, es ins Gymi zu schaffen. Und dann die Matura zu bestehen. » Der Astronom erinnert sich ungern an die Schulzeit: «Ich hatte Angst vor den Lehrern. Einige sagten: Du bist dumm. Es hiess etwa: Oliver, du hast eine gute Prüfung geschrieben: Du hast einen Zweier geschafft.»

Preisgekrönte Jagd nach Winzlingen
Oliver Müller kam 1989 in Basel zur Welt. Beim Physikstudium entdeckte er seine Begeisterung für Sterne und doktorierte mit einer Arbeit über Zwerggalaxien. Dafür hat er von der Uni Basel den Amerbach-Preis für die beste Dissertation erhalten sowie auch den Edith-Alice-Müller-Preis von der Astronomischen Gesellschaft Schweiz und den Prix Schläfli in Astronomie von der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.

Zurzeit forscht der passionierte Gitarrist und Schwertkämpfer an der Universität in Strassburg zu den kleinsten Galaxien im Universum. Doch der Überflieger im Sterngucken ist auch bodenständig: Als Autor des Blogs «Prosa der Astronomie» übersetzt er Formeln in Worte und macht damit Wissenschaft für alle zugänglich. Dafür wurde er mit dem Deutschen Klartext-Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet.

Doch Müller schlängelte sich durch, wollte nun selbst Lehrer werden. Weil er gerne Dinge erklärte, weil er es besser machen wollte und vielleicht auch, weil ihm nichts anderes einfiel und ihm die Berufsberatung dazu riet. Mathe und Geschichte sollten seine Fächer sein. Geschichte fürs Herz, Mathe fürs Jobprofil. «Zwei Welten prallten aufeinander. In Geschichte hat man vor allem diskutiert. In Mathematik hiess es: Bam, Bam, Bam! Da ist die Tafel, da sind die Formeln! Mich sprach nur diese exakte Denkweise an.» Trotzdem: Gleich im ersten Jahr fiel er ausgerechnet in Mathe durch. «Der Professor sagte zu mir: Sie könnten es. Ich lasse sie durchrasseln, dann lernen Sie es nochmal richtig.» Heute sei er dem Professor dankbar. «Es wäre sonst wohl ewig so weitergegangen.»

Leute hässig gemacht

Der einfachste Weg, die unliebsame Geschichte loszuwerden, ohne Zeit zu verlieren, war, Physik zu wählen. Dort belegte Müller ein Praktikum in Astronomie. «Die Theorie interessierte mich damals kaum. Aber die Nächte: Wow!» Als Stadtkind offenbarte sich Oliver Müller zum ersten Mal die Milchstrasse. «Das war Berufung. » Die Begeisterung blieb. «Sie macht mich produktiv und kreativ. Man muss kein Genie sein.» Allerdings gebe es viele sehr gute Arbeiten, die nicht wahrgenommen würden. «Formeln in Worte zu übersetzen ist schwierig. Aber was ist der Nutzen der Wissenschaft, wenn sie nicht verständlich weitergereicht werden kann?» Er habe seine Schwächen in Stärken verwandelt: In seinem populärwissenschaftlichen Blog zu astronomischen Themen übt er das Schreiben. In der Kampfkunst das Durchboxen. Als Musiker das Hinstehen. Bei all dem: mutig sein, sich exponieren. «Heute bin ich ein extrovertierter Introvertierter.» Er lacht.

«Sobald ich Gegenwind erfahre, motiviert mich das. Wenn man Emotionen auslöst, ist man auf dem richtigen Weg, nicht?»

Müller wird aber auch schnell wieder nachdenklich: «Ich habe keine Angst vor den Grossen. Sie haben Erfahrung, aber niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefressen. Sobald ich Gegenwind erfahre, motiviert mich das. Wenn man Emotionen auslöst, ist man auf dem richtigen Weg, nicht?» Man habe ihm in Fachkreisen davon abgeraten, seine Karriere auf das galaktische Problem der Zwerggalaxien zu stützen. Man habe seinetwegen Seminare abgesagt, den Kontakt verweigert. «Es gibt Leute, die hässig auf mich sind, weil ich ihre Arbeit widerlegt habe.» Verstehen kann er das nicht: So funktioniere doch Wissenschaft! Manchmal, sagt er, müsse die alte Generation erst abtreten, bevor neue Ideen breit akzeptiert würden. «Ich will den nächsten Schritt anstossen.»

Zu erforschen bleibt für folgende Generationen genug: Das Beobachten der Zwerge, wie Müller die kleinen Galaxien liebevoll nennt, steckt noch in den Kinderschuhen. Die Winzlinge zu finden ist schwierig, weil sie so schwach leuchten und durch die Erdatmosphäre hindurch schwer zu beobachten sind.

Mit blossem Auge statt mit Software

Oft ist der Astronom auf riesige, bis zu zehn Meter grosse Teleskope angewiesen. Da jede Minute am Gerät wertvoll ist, rund 100 Dollar kostet, legen die Forschenden nicht selbst Hand an. Die Einstellung des Teleskops überlässt Müller den Spezialisten. Nach einer Nacht schicken diese ihm dann das geheimnisvolle Paket an Daten zu, und die monate- bis jahrelange Auswertung am Computer beginnt. In seinem Forschungsteam wird überwiegend mit dem Auge gearbeitet, was heute als weniger wissenschaftlich angesehen wird, wie der Astronom erklärt. «Natürlich ist die Software schneller. Aber ich bin besser.» Er habe den Vergleich gemacht: Das derzeit beste Programm hatte 5000 potenzielle Zwerggalaxien aufgespürt. Aber nur eine einzige Identifikation sei richtig gewesen. «Mit blossem Auge fand ich drei. Selbst unauffällige Galaxien können wir im verrauschten Abbild des Nachthimmels besser entdecken als jede Software.»

Elan ist ansteckend. Der Wissenschaftler, ganz Lehrer, ganz Rockstar, nutzt nun seine neue Bühne: «Astronomie ist etwas vom Schönsten, um andere für naturwissenschaftliches Denken zu gewinnen. Die Sterne und das Universum, das fasziniert die Menschen auf der ganzen Welt. Und ich habe am eigenen Leib erfahren: Erst, wenn die Begeisterung geweckt ist, macht es Klick.»