Im Kampf gegen die Klimakatastrophe ist der Ausweg über autoritäre Instrumente verführerisch. Für Politikwissenschaftlerin Karin Ingold hat der Erhalt der Demokratie aber Priorität. Foto Ruben Hollinger

 

Karin Ingold, der Biophysiker James Lovelock sagte einmal, dass die Menschheit den Klimawandel nur bewältigen könne, wenn sie ihn wie einen Krieg behandle. Die Demokratie müsse dafür sistiert werden.

In Verhandlungsdemokratien, für welche die Schweiz ein idealtypisches Beispiel ist, dauert die Entscheidungsfindung oft unglaublich lange. Und solche Demokratien produzieren meist nur sogenannte sanfte Politiken, denn in Kompromissen ist immer die Meinung vieler enthalten. Solche Prozesse führen meist nicht zu innovativen und spektakulären Lösungen. Gleichzeitig aber ist klar, dass Demokratien besonders dafür geeignet sind, Frieden zu stiften. Breit abgestützte und legitimierte Politiken bringen vielleicht kurzfristig nicht die grosse Umwälzung, aber dafür wird die langfristige Unterstützung des Volkes gesichert, was mindestens ebenso wichtig ist.

«Spätestens nach zwei Jahren kümmern sich die Entscheidungstragenden nicht mehr vorwiegend um die politischen Inhalte, sondern um die eigene Wiederwahl.»

Trotzdem, auch Sie schreiben, dass Nachhaltigkeit und Demokratie nicht immer kompatibel sind.

Ja, denn unsere Entscheidungstragenden haben meist ein Mandat für vier Jahre. Spätestens nach zwei Jahren kümmern sie sich nicht mehr vorwiegend um die politischen Inhalte, sondern um die eigene Wiederwahl. Um Verhaltensänderungen wie weniger Fliegen und Autofahren zu bewirken, ist das nicht förderlich. Die Mandate könnten verlängert werden, aber dadurch werden Bürgerinnen und Bürger in ihrer Freiheit beschnitten, Personen abzuwählen, die falsche Versprechungen gemacht haben.

In der Klimapolitik gibt es seit zwei Jahren einen neuen Akteur: die Jugend. Sie sieht ihre Interessen durch die klassische Parteipolitik nicht vertreten und geht auf die Strasse. Wie steht es um die Partizipationsmöglichkeiten im demokratischen System?

Es gibt unzählige Arenen, die ausserhalb des regulären Politbetriebs aktiviert werden können. Bei der Fridays-for-Future-Bewegung und Greta Thunberg stellt sich hingegen die Frage nach der demokratischen Legitimierung. Niemand hat sie für die Mitgestaltung der Politik gewählt. Weshalb darf Thunberg vor der Uno sprechen und nicht jemand anderes? Bürgerinnen und Bürger konnten sie weder wählen noch können sie sie abwählen. Es ist schwer nachvollziehbar, nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurde, um an politischen Entscheidungsprozessen mitzuarbeiten.

«Wer sind diese Repräsentierenden der zukünftigen Generation? Soll es sich dabei um Nostradami handeln, die in die Zukunft blicken können?»

Wie wäre es, parlamentarische Gremien zu schaffen, in denen die Forderungen der Jugendlichen und künftigen Generationen vertreten sind? Der Philosoph Bernward Gesang schlägt Zukunftsräte als dritte Kammern vor.

Da stellen sich mir sofort eine Reihe von Fragen: Wer sind diese Repräsentierenden der zukünftigen Generation und sind diese demokratisch gewählt? Soll es sich dabei um Nostradami handeln, die in die Zukunft blicken können? Die Ressourcen, die zukünftige Generationen zum Leben benötigen, lassen sich vielleicht noch berechnen. Aber was ist mit den Bedürfnissen? Wer weiss heute schon, wie deren Bedürfnisse einst aussehen werden? Ich finde wichtiger, dass wir heute sicherstellen, dass unseren Nachkommen dereinst die gleichen demokratischen Prinzipien zur Verfügung stehen wie uns heute.

Und was ist mit Wissenschaftlerinnen – sind sie heute im politischen System nicht untervertreten?

Wenn Sie dabei an parlamentarische Sitze denken, die für Wissenschaftler reserviert sind – dem würde ich niemals zustimmen, denn damit würde die Demokratie beschnitten! Das Parlament hat die Aufgabe, die Wertvorstellungen einer Gesellschaft zu repräsentieren. Als Bürgerin will ich keine undemokratisch legitimierten Stimmen im Parlament, sondern das Parlament nach eigenen Vorstellungen wählen und abwählen können. Ich warne vor einer Politisierung der Wissenschaft. Es gibt andere, wirkungsvollere Wege für mehr Evidenz in der Politik: zum Beispiel mehr Ressourcen für ausserparlamentarische Gremien mit Wissenschaftlerinnen, die Regierung und Parlament beraten. Oder mehr Investitionen in politische Bildung und Wissenschaftskommunikation.

In internationalen Klimaverhandlungen wird die Schweiz oft als Vorreiterin wahrgenommen. Im Land selbst kommen klimapolitische Vorlagen jedoch nur schleppend voran. Weshalb diese Diskrepanz?

Das sind zwei komplett unterschiedliche Baustellen. Klimadelegationen sind relativ klein und heterogen. NGOs und die Wissenschaften haben dort ein relativ starkes Gewicht. Wenn aber national eine CO2-Abgabe zur Diskussion steht, dann schalten sich auch eine Erdölvereinigung, ein TCS, ein Hauseigentümerverband oder ein Konsumentenschutz in die Diskussion ein. Die Betroffenheit ist entscheidend.

«Grosse, revolutionäre Ideen haben es schwer in der Schweiz.»

Müsste der Bundesrat nicht energischer darauf hinarbeiten, internationale Bestimmungen national zu verankern?

Das funktioniert so nicht, und dafür gibt es ein schönes Beispiel: Nach der Umweltkonferenz von Rio 1992 kehrte der damalige Umweltminister und Bundesrat Flavio Cotti heim und wollte eine CO2-Steuer einführen. Die Schweizer Wirtschaft und gewisse Parteien haben sich dermassen lautstark entrüstet, dass der Prozess für eine Gesetzesvorlage gar nicht erst eingeleitet wurde. Sie sehen: Grosse, revolutionäre Ideen haben es schwer in der Schweiz.

Aber die Coronakrise hat gezeigt: Der Bundesrat kann scharfe Massnahmen ergreifen, um die Bevölkerung zu schützen. Sollte er für die Klimakrise nicht ähnliche Befugnisse haben?

Die beiden Krisen unterscheiden sich in zwei wichtigen Merkmalen: in der Art der Betroffenheit und im Zeithorizont. Die Politiken, die vom Bundesrat angeordnet wurden, liessen sich nicht nur umsetzen, weil die Bevölkerung an den Befehl von oben glaubt, sondern auch weil sich die Leute tatsächlich persönlich betroffen fühlten. Betroffenheit verhilft einer Politik zum Erfolg. Sie ist beim Klimawandel noch immer zu wenig gross. Dasselbe gilt für den Zeithorizont: Die Klimakrise ist langfristig, die wirklich schlimmen Auswirkungen werden in einigen Jahren und Jahrzehnten erwartet. Viele der Entscheidungstragenden sind über 60 oder 70 Jahre alt und sind davon sowieso nicht mehr betroffen. Bei Covid-19 hingegen ist die Krise unmittelbar und akut.

Expertise Klima
Karin Ingold ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und mit dem Oeschger Zentrum für Klimaforschung sowie dem Departement für Umweltsozialwissenschaften der Eawag assoziiert.