Die Zahl der in die Welt gebrachten Chemikalien steigt ständig, während die Risikoabklärungen anspruchsvoll bleiben. | Bild: AdobeStock/Korn V.

«Zweifellos die am besten untersuchte Substanz der Welt» – so schreibt das Bundesamt für Gesundheit über die Chemikalie Bisphenol A, die in unzähligen Plastikprodukten steckt. Sie steht seit Jahrzehnten im Verdacht, den Hormonhaushalt zu beeinflussen und für schwere Gesundheitsschäden wie Unfruchtbarkeit und Fettleibigkeit zu sorgen. Für besondere Aufregung sorgte der Nachweis von Bisphenol A in Schoppenflaschen und Nuggi.

Das BAG beruhigt zwar: «Bisphenol A stellt gemäss aktuellem Wissensstand kein Gesundheitsrisiko dar, da die Belastung für die Bevölkerung zu gering ist.» Trotzdem gibt es Massnahmen, um die Verwendung dieser Chemikalie weiter zu reduzieren – so ist sie beispielsweise in der Schweiz seit dem Jahr 2017 für Schoppenflaschen verboten. Trotz Hunderten von wissenschaftlichen Studien und grösster Bemühungen ist also immer noch nicht abschliessend geklärt, wie gefährlich Bisphenol A wirklich ist. Und was ist mit all den anderen Chemikalien des täglichen Gebrauchs, über die wir weit weniger wissen?

Über 200 Millionen Chemikalien

Eigentlich ist alles genau geregelt: Für chemische Stoffe, die in Mengen über einer Tonne pro Jahr in den Verkehr gebracht werden, müssen Hersteller in der EU ein Dossier mit Daten über gefährliche Eigenschaften bereitstellen. Für Mengen über zehn Tonnen pro Jahr müssen sie auch eine Risikoabschätzung vorlegen. Darin steht unter anderem, inwieweit und ab welcher Konzentration die Stoffe ein Risiko für Vergiftungen, Entwicklungsstörungen oder Krebserkrankungen darstellen können. Dabei wird auch die Art und Weise berücksichtigt, wie Menschen mit der Substanz in Kontakt kommen. Das Schweizer Chemikalienrecht orientiert sich eng an der seit dem Jahr 2007 geltenden EU-Verordnung namens REACH (siehe Kasten).

Bis heute sind etwa 22 000 Substanzen bei der Europäischen Chemikalienagentur registriert. Trotzdem bezweifeln viele, dass das System den Anforderungen gewachsen ist. Denn die Zahl neuer Chemikalien steigt ständig, während die Risikoabklärungen ebenso umfangreich wie anspruchsvoll sind. Die öffentliche Chemikalien-Datenbank Pubchem verzeichnet mittlerweile über 200 Millionen Substanzen. Die meisten davon wurden noch nie getestet oder nicht nach aktuellen Standards, etwa weil sie nicht in grossen Mengen eingesetzt werden. «Eigentlich ist es gar nicht realistisch, dass man für jede einzelne Chemikalie, die irgendwo existiert, umfangreiche Abklärungen machen und einen genauen Grenzwert festlegen kann», sagt deshalb auch die Umweltchemikerin Juliane Hollender vom Wasserforschungsinstitut Eawag.

Streit um hormonaktive Stoffe
Viele Chemikalien greifen in das menschliche Hormonsystem ein, was zu gesundheitlichen Problemen und Entwicklungsstörungen führen kann. Seit vielen Jahren streiten sich die Fachleute, ob sich für hormonaktive Substanzen eine sichere Dosis festlegen lässt.

Toxikologische Standardtests gehen vom Prinzip aus: «Je höher die Dosis, desto grösser der Effekt.» Dementsprechend gibt es eine bestimmte Dosis, unterhalb der ein Stoff keine Wirkung hat. Einige Forschende geben aber zu bedenken, dass dies für hormonaktive Substanzen nicht gilt: Zum Teil kann eine niedrige Dosis aufgrund der biologischen Zusammenhänge manchmal einen grösseren Effekt haben als eine hohe. Ausserdem kämen Eingriffe in das Hormonsystem oft erst später im Leben zum Tragen, was die Risikoabschätzungen nicht berücksichtigen. Die Toxikologie-Seite wiederum kritisiert, dass die Resultate nur aus Zellkulturen und Tiermodellen stammen. Ein Ende der Debatte ist nicht in Sicht.

Dass viele Substanzen durch das Raster fallen, zeigt auch die tägliche Analyse von Wasserproben aus dem Rhein bei Basel. Dabei wurden schon Hunderte von chemischen Substanzen entdeckt, von deren Existenz im Wasser bisher niemand etwas wusste und die möglicherweise toxisch sind. Zählt man auch nur die zehn mengenmässig am häufigsten vorkommenden Stoffe zusammen, so flossen im Jahr 2014 mindestens 25 Tonnen an ungetesteten Chemikalien den Rhein hinunter. Und eine im August 2019 publizierte Studie der Goethe- Universität Frankfurt fand in Joghurtbechern aus Plastik über 1000 unbekannte Stoffe, von denen viele in Labortests toxische Effekte zeigten. Am schlechtesten schnitten dabei Becher aus PVC und auch dem biologisch abbaubaren PLA ab. Für PET ergab die Analyse dagegen praktisch keine Toxizität. Bei den unbekannten Stoffen sowohl im Plastik als auch im Rheinwasser handelt es sich wahrscheinlich um Abbauprodukte von bekannten Chemikalien oder Verunreinigungen und Nebenprodukte aus dem Herstellungsprozess.

«Es ist nicht realistisch, für jede einzelne Substanz umfangreiche Abklärungen zu machen.»Juliane Hollender

Hollender sieht neben der Überforderung durch die schiere Zahl auch noch eine andere Schwäche im System: «Die toxikologischen Tests sind Messinstrumente, die bestimmte Effekte gut erfassen, aber es ist natürlich schwierig, die gesamte Bandbreite an möglichen Folgen abzudecken.» So werden etwa die Wechselwirkungen nicht berücksichtigt, zu denen es zwischen den verschiedenen Chemikalien kommen kann. Ebenfalls wenig bekannt sind Langzeiteffekte: Was passiert, wenn sich eine Vielzahl von chemischen Substanzen ein Leben lang im Körper ansammelt. Und unter Experten gibt es erbitterte Diskussionen darüber, ob Grenzwerte für Substanzen wie Bisphenol A, die in so komplexe biologische Prozesse wie das Hormonsystem eingreifen, überhaupt sinnvoll sind (siehe Kasten).

Gesucht: risikoarme Alternativen

Alles kein Grund zur Panik, meint der Umweltchemiker Bernd Nowack von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa: «Die heutige Risikoabschätzung von Chemikalien ist eine etablierte Methode, die grundsätzlich niemand in Frage stellt.» Man solle sich nicht von wissenschaftlichen Studien verunsichern lassen. Oft würden die Forschenden einfach so lange herumprobieren und die Dosis erhöhen, bis sie einen Effekt sehen, beispielsweise bei Mikroplastik: «Das hat mit einer Risikoabschätzung nichts zu tun.» Selbst Wissenschaftler hätten oft Schwierigkeiten, zwischen der Gefahr einer Substanz, also der Toxizität, und dem Risiko zu unterscheiden, welches auch umfasst, wie stark Menschen mit ihr in Kontakt kommen.

Auch Martin Schiess, Abteilungschef Luftreinhaltung und Chemikalien am Bundesamt für Umwelt, findet, dass die Schweiz gut aufgestellt ist: «Wir haben ein modernes Chemikalienrecht, das laufend an den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst wird.» Er räumt aber ein, dass es Stoffe gibt, für die sich mit herkömmlichen Methoden keine Grenzwerte festlegen lassen – etwa weil sie sich im Körper ansammeln, hormonähnlich wirken oder besonders krebserregend sind. Diese Substanzen sollen deshalb nach und nach durch risikoärmere Alternativen ersetzt werden. Und schliesslich könnten auch Konsumenten und Konsumentinnen etwas beitragen, etwa durch die Wahl von Produkten beim Einkaufen.

REACH: Ein strenges Chemikaliengesetz?
Die seit 2007 gültige Verordnung der EU zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien (REACH) gilt als eine der komplexesten Gesetzgebungen der EU. Die Verantwortung für die Risikoabklärung von Chemikalien liegt jetzt nicht mehr wie früher bei den Behörden, sondern bei den Herstellern und Importeuren – nach dem Motto: «Keine Daten, kein Markt.»

Alle neuen Chemikalien, von denen mehr als eine Tonne eingesetzt wird, müssen mit einem Dossier bei REACH registriert werden – je grösser die Menge, desto umfangreicher sind die nötigen Daten zur Abschätzung der Risiken. Alte Chemikalien wurden ebenfalls schrittweise bis 2018 registriert, und für besonders besorgniserregende Substanzen werden separate Stoffbewertungen durchgeführt.

Obwohl die Verordnung als streng und modern gilt, gibt es viel Kritik: So wird lediglich bei einer Stichprobe von fünf Prozent der Dossiers genauer hingeschaut. Eine Studie des deutschen Bundesamtes für Risikobewertung deckte im Jahr 2018 auf, dass bei mindestens einem Drittel der Dossiers für in grossen Mengen eingesetzte Chemikalien wichtige Daten und Tests zur Sicherheit fehlten – ohne nennenswerte Konsequenzen für die Hersteller. Auch die hohe Zahl an Tierversuchen, die wegen REACH nötig sind, wird von Tierschutzorganisationen und auch Wissenschaftlern bemängelt. Allerdings sind die Hersteller der gleichen Chemikalie beispielsweise verpflichtet, ihre Daten aus Tierversuchen miteinander zu teilen.

Aber nicht nur auf der individuellen Ebene muss etwas passieren, meint die Umweltethikerin Anna Deplazes Zemp von der Universität Zürich: «Der Mensch hat eine Verantwortung für die Natur. Deshalb müssen wir den Fortschritt hinterfragen und in eine andere Richtung lenken.» Dies würde für Chemikalien beispielsweise bedeuten, Fortschritt nicht nur über Ertrag und Leistung zu definieren, sondern über die Entwicklung von nachhaltigen und besser abbaubaren Substanzen. «Es gibt auch Leute, die sagen, wir müssen jetzt einen Strich ziehen und jegliche technische Weiterentwicklung stoppen», so Deplazes. Doch damit ist sie nicht ganz einverstanden: «Mit einem Totalstopp verbaut man sich die Möglichkeit für positive Entwicklungen.»

Eine solche radikale Lösung kann sich auch Juliane Hollender nicht vorstellen: «Es ist illusorisch, auf alle Chemikalien zu verzichten, denn die Chemie gibt uns ja auch viel Gutes. Wir müssen einfach versuchen, richtig damit umzugehen. Aber völlige Sicherheit gibt es letztlich nicht.»