Kohlekraftwerke müssen für ihre Umweltschäden aufkommen. Sonst können selbst günstige Windräder sie nicht aus dem Markt drängen. | Bild: Keystone/imageBROKER/Hans Blossey

Kohlekraftwerke müssen für ihre Umweltschäden aufkommen. Sonst können selbst günstige Windräder sie nicht aus dem Markt drängen. | Bild: Keystone/imageBROKER/Hans Blossey

Eigentlich könnte die Energiewende in Europa schneller vorangehen. Windturbinen und Fotovoltaikanlagen erzeugen nämlich derzeit den günstigsten Strom. Ihre laufenden Kosten sind niedriger als bei konventionellen Kraftwerken. Deutschland konnte so 2018 erstmals mehr als 40 Prozent des Energiebedarfs aus erneuerbaren Energien decken, berechneten Forschende des Fraunhofer- Instituts für Solare Energiesysteme in Freiburg im Breisgau.

Das klingt erst mal gut. Doch bei genauerer Betrachtung gibt es Probleme. Da Wind und Sonne nämlich nur phasenweise verfügbar sind, braucht es für stabile Netze weiterhin flexible Kraftwerke, die bei Bedarf möglichst schnell Strom bereitstellen können. Von den klimafreundlichen Technologien stehen nur Wasserkraft und Pumpspeicher zur Verfügung. Ihr Ausbau geht aber nur schleppend voran. Nach wie vor müssen konventionelle Kraftwerke einspringen, um diese sogenannte Restlast zu decken. Hier kommen derzeit in vielen Ländern ausgerechnet die schmutzigen Kohlekraftwerke zum Zug.

«Wir befinden uns in der Übergangsphase von der regulierten in eine marktwirtschaftlich dominierte Welt.» Hannes Weigt

Der Grund dafür steckt in der wirtschaftlichen Struktur der Strommärkte. «Wir befinden uns gerade in der Übergangsphase von der alten regulierten in eine neue marktwirtschaftlich dominierte Welt», erklärt der Ökonom Hannes Weigt von der Universität Basel, der auch am Nationalen Forschungsprogramm «Energiewende» (NFP 70) beteiligt ist. Wäre der Markt stark reguliert, könnten Regierungen künftig stärker auf saubere Quellen für flexible Kraftwerke setzen. Doch Investitionen in diesem Bereich stocken, und Energieerzeuger zögern, da bereits bestehende Anlagen derzeit oft wenig rentabel laufen. Etwa Besitzer von Wasserkraftwerken und Pumpspeichern in der Schweiz klagen über schlechter werdende wirtschaftliche Bedingungen.

Börse verdrängt Gaskraftwerke

Zu dieser verzwickten Situation beigetragen haben ausgerechnet die erneuerbaren Energien. Um das zu verstehen, muss man sich den Energiemarkt genauer anschauen. Er gleicht dem Aktienhandel. Kurzfristig bestimmen Angebots- und Nachfragekurven den Strompreis an den Strombörsen. Dieser wird für alle Anbieter durch das Kraftwerk bestimmt, das noch benötigt wird, um den letzten Rest der Nachfrage zu decken. Steigt das günstige Stromangebot aus Windturbinen und Fotovoltaikanlagen, werden der Reihe nach die teuersten konventionellen Kraftwerke aus dem Markt verdrängt. Das betrifft zunächst die Ölkraftwerke, dann die Gasturbinen.

Übrig bleiben die Kohlekraftwerke. Da in den vergangenen Jahren die Preise für Kohle und Emissionszertifikate gesunken sind, liefern sie den billigeren Strom als die zwar effizienten, aber teureren Gasturbinen. Sogar moderne Anlagen wie die Gaskraftwerke Irsching 4 und 5 in Süddeutschland dienen trotz ihres sehr hohen Wirkungsgrads nur noch als Kaltreserve – sie sind quasi stillgelegt. Auch die Wasserkraftwerke in der Schweiz waren in den vergangenen Jahren unrentabel. Schuld daran war vor allem der Ausbau der Windenergie in Nordeuropa.

«Das ist eine paradoxe Situation», sagt Philippe Jacquod vom Institut für Systemtechnik der Walliser Hochschule HESSO. Sinkende Strompreise schreckten Investoren derzeit ab, weiter in erneuerbare Energien, Stromtrassen und für die Netzstabilität notwendige Speicher zu investieren. Um besser zu verstehen, wie der Übergang von fossilen Brennstoffen hin gen kann, sucht Jacquod gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Laurent Pagnier mit einem neuen technisch-ökonomischen Modell nach Lösungen für den europäischen Strommarkt. Die Schweiz ist dabei ein wichtiges Transitland für den Strom in Nord-Süd-Richtung.

«Man sollte jede Tonne CO2 mit mindestens 40 bis 50 Euro besteuern.»Philippe Jacquod

Das europäische Stromnetz wird dabei als Netzwerk dargestellt, bei dem jedes Land je nach Grösse ein oder zwei Knotenpunkte umfasst. Benachbarte Knoten, also Länder sind dabei mit einer Art Stromautobahn untereinander verbunden. Die Knoten selbst enthalten wichtige Informationen über das jeweilige Land, seine Stromerzeugungskapazitäten und den Stromverbrauch – und zwar stundengenau. Die Daten dafür stammen vom Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber.

Das Modell verknüpft die Entwicklung der Produktionskapazitäten mit dem Preis an der Strombörse. Es zeigt sich, dass die Produktionserlöse der Stromerzeuger stark von der Bereitstellung der Restlast abhängen. Wie erwähnt, liefern diese europaweit oft die Kohlekraftwerke, und zwar sogar dann, wenn sie kurzfristig mal unwirtschaftlich Strom produzieren. Forschende nennen diese Situation «must-run». Das bedeutet, dass es wirtschaftlich ungünstiger ist, Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen und sie wieder hochzufahren. Also laufen sie weiter, obwohl sie kurzfristig Strom unter Erzeugerpreis anbieten. «Die ‹Must-run›-Kapazitäten müssen dringend reduziert werden», sagt Jacquod.

«Kohle ist zu billig, man sollte jede Tonne CO2 mit mindestens 40 bis 50 Euro besteuern », sagt der Schweizer Physiker und Energieexperte. Nur so könne das Paradoxon der Energiewende überwunden werden. Es gehe ihm nicht um «Steuern um der Steuern willen», sondern darum, Kohlekraftwerke für ihre Umweltauswirkungen bezahlen zu lassen. Die gute Nachricht für den Endverbraucher sei, dass der Strom pro Kilowattstunde nur ein bis zwei Eurocent teurer würde.

Modell Dänemark-Norwegen

Solche wirtschaftlichen Interventionen in den europäischen Strommarkt können in der Übergangsphase durchaus sinnvoll sein, meint auch der Ökonom Hannes Weigt. Die für die Energieerzeuger so wichtige langfristige Rentabilität hängt vom durchschnittlichen Strompreis und von den Angeboten der Konkurrenz ab, also vom Gesamtenergiemix eines Landes – sowie von politischen Rahmenbedingungen wie Steuern oder Fördermodellen. Ideal wäre es, so zeigen Studien, wenn möglichst schnell die «wahren Preise» der einzelnen Energiequellen berechnet würden. «Würde man die tatsächlichen Kosten etwa bei Kohle und Gas ansetzen, wären die erneuerbaren Energien wahrscheinlich jetzt schon konkurrenzfähig, auch ohne staatliche Unterstützung», sagt Weigt.

Der Ökonom hat auch Modelle für den Schweizer Energiemix vorgelegt. Als Teil der Schweizer Energiestrategie 2050 sollte der Anteil der Fotovoltaik deutlich ansteigen und so, gekoppelt mit Importen, ab 2035 sukzessive die Stromerzeugung der vier Atomkraftwerke ersetzen. Dabei wird es auch zu einem fundamentalen Wandel kommen: Statt fünf Grosskraftwerken müssen dann Abertausende Fotovoltaikanlagen auf privaten Gebäuden koordiniert werden. Pumpspeicherwerke oder neu entwickelte Speicher könnten die Stabilität sichern. «Langfristig wären Wasserkraft und erneuerbare Energien natürliche Partner», ergänzt Philippe Jacquod.

Dass sich der Mut für eine schnelle Energiewende nicht nur hinsichtlich der Umwelt lohnen könnte, zeigen etwa skandinavische Länder: Dänemark hat mit mehr als 40 Prozent bereits jetzt einen hohen Anteil an Windenergie, für Stabilität sorgt Strom aus Pumpspeichern in den norwegischen Bergen. Norwegens Seen könnten künftig zum Energiespeicher Europas werden. Der Preis für Strom ist dabei kaum gestiegen.