FOKUS: MIT BILD ZUR ERKENNTNIS
Wir sehen nicht mit dem Auge allein
Geräusche, Erinnerungen, Fantasie: Sie alle fliessen in die Bilder ein, die wir uns von der Umgebung machen. Zwischen dem ersten optischen Reiz und dem Bild in unserem Kopf entfaltet sich ein Universum an Interpretationen.

Was sehen Sie hier genau? Kippbildernd sind ein Problem mit zu vielen möglichen Lösungen, erklärt Neurowissenschaftler David Pascucci. Deswegen der Flip von Vase zu Gesichtern. | Foto: MakerWorld
Vase oder zwei Gesichter? Auf dem Papier bleibt alles gleich. Und trotzdem sehen wir plötzlich etwas völlig anderes. Kippbilder zeigen: Sehen ist auch eine gute Portion Interpretation. Unser Gehirn entscheidet, was es aus den Strichen, Punkten und Schatten macht, die die Augen registrieren. Es kann dabei seine Meinung blitzschnell ändern. Das verrät etwas Grundlegendes: Unser Gehirn hasst Ungewissheit.
«Kippbilder sind ein Problem mit zu vielen möglichen Lösungen», erklärt David Pascucci, Neurowissenschaftler an der Universität Lausanne. «Daher muss es Annahmen treffen, um die wahrscheinlichste Erklärung zu finden.» So erklärt sich der Flip zwischen den Motiven: Anstatt ein unlogisches Mittelding abzubilden, sucht unser Gehirn nach einer plausiblen Interpretation.
«Sehen wird oft mit einer Kamera verglichen. Aber diese Metapher hinkt», findet Pascucci. Anders als beim Fotografieren entsteht in unserem Kopf nämlich kein punktgenaues Abbild der Realität. Schon anatomisch ist das unmöglich. Die Netzhaut besitzt viel mehr Lichtsensoren als Nervenfasern, um diese Informationen ans Gehirn weiterzuleiten. «Die aufgenommenen Daten werden also stark komprimiert, die Auflösung nimmt ab, und trotzdem sehen wir ein Bild, das weit über reine Pixel hinausgeht», so Pascucci.
Was wir wahrnehmen, ist am Ende ein raffiniertes Konstrukt. Zusammengesetzt wird es im Hinterkopf in der Sehrinde. Hier kommen die Signale von der Netzhaut an, werden verarbeitet und ergänzt: Aus zwei Dimensionen werden drei, Distanzen werden errechnet, Bewegungen erfasst. Unser Hirn kombiniert, was vorhanden ist, mit dem, was plausibel erscheint – mit dem Ziel, ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen.
Am Mischpult der Sinnesreize
Dazu braucht es mehr, als was die Augen liefern. In der Sehrinde wird auch Information aus anderen Sinneskanälen verarbeitet. «Geräusche, Gerüche, Tastempfindungen – all das fliesst in die Bildentstehung ein», erklärt Petra Vetter, Professorin für kognitive Neurowissenschaften an der Universität Freiburg. Sie erforscht, wie multisensorische Inputs die visuelle Wahrnehmung beeinflussen. Das Gehirn arbeitet dabei wie eine Tontechnikerin am Mischpult: Es verstärkt manche Signale, dämpft andere – je nachdem, was gerade am sinnvollsten scheint.
Vorrang hat dabei derjenige Sinn, der die verlässlichsten Daten liefert. Meist kommen diese, trotz Komprimierung, von den Augen. «Darum erscheint uns Sehen als dominantester Sinn», sagt Vetter. Doch sobald visuelle Information unsicher wird, schaltet das Gehirn blitzschnell um.
«Im Nebel verlassen wir uns sofort mehr aufs Hören», so die Wissenschaftlerin. «Denn das optische Signal ist zu verrauscht, als dass wir uns damit eine brauchbare Vorstellung unserer Umgebung machen könnten.» Bei Menschen etwa, die von Geburt an blind sind, bleibt die Sehrinde aktiv – nur nutzt sie andere Kanäle. Die räumliche Wahrnehmung wird trotzdem organisiert, auf Basis von Klang, Berührung, olfaktorischen Reizen. Das blitzschnelle Umschalten der Kanäle verdeutlicht, wie das Gehirn Unklarheiten systematisch aus dem Weg räumt.
Dabei bedient es sich zusätzlich in unseren geistigen Archiven: Erinnerungen, Erfahrungen und Erwartungen helfen, visuelle Lücken zu schliessen. Für Vetter ist der Übergang zwischen Kognition und Wahrnehmung deswegen fliessend: «Wir gehen heute davon aus, dass unsere Wahrnehmung von Raum in Schleifen entsteht: Das Gehirn prüft, vergleicht und passt Informationen an, bis alles zusammenpasst.» Ein iterativer Prozess.
Als weiteres Element hilft die Imagination. «Das Gehirn trifft ständig Vorhersagen, um eine plausible Darstellung unserer Umgebung zu konstruieren», erklärt Fred Mast, Psychologe an der Universität Bern und Spezialist für mentale Bilder. «Die optische Sinnesverarbeitung allein ist viel zu langsam, als dass wir uns damit in der Welt zurechtfänden. » So spielt auch die Vorstellungskraft bei der Wahrnehmung mit – gespeist aus dem, was wir im Gedächtnis abgespeichert haben, und darüber hinaus.
Das fliegende Kamel sehen
«Wir können uns etwas vorstellen, das gar nicht da ist», führt Mast aus. Zum Beispiel ein fliegendes Kamel. «Haben Sie noch nie gesehen, oder? Aber ich wette, Sie haben jetzt ein Bild im Kopf.» Genau das funktioniert aber nicht bei allen. Menschen mit sogenannter Afantasie fehlt die Fähigkeit, solche inneren Bilder zu erzeugen. «Sie können sich keine Objekte vorstellen», erklärt Mast. «Aber sie können sich trotzdem gut im Raum orientieren. » Die Vorstellungskraft sei also kein Muss– aber sie verändere, wie wir die Welt wahrnehmen.
Zwischen dem ersten optischen Reiz und dem Bild in unserem Kopf liegt ein kleines Universum der Interpretation. Das Motto «Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen» ist also mit Vorsicht zu geniessen.