Um sich rasch zu intergrieren, hat die Soziologin Oana Ciobanu überall, wo sie geforscht hat, den Tanzsport Capoeira betrieben. So hat sie schnell neue Menschen kennengelernt. | Foto: Mathilda Olmi

Obwohl Oana Ciobanu die akademische Karriereleiter im Schnellzugtempo hochgeklettert ist, beharrt sie darauf, keine hoch qualifizierte mobile Arbeitskraft zu sein, sondern ganz einfach eine Migrantin. «Das ist nichts Negatives», findet die Rumänin. Als Soziologin, die jüngst zur Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne von der HES-SO berufen worden ist, weiss sie, was hinter diesem Begriff steckt. Sie beschäftigt sich seit fast 20 Jahren mit Migration. «An der Universität Bukarest gehörte ich zu einer Gruppe von Studierenden, die Feldforschung betreiben wollten », erzählt sie mit singendem Akzent. «Mit unserem Professor, Dumitru Sandu, besuchten wir zwei rumänische Dörfer, in denen wir die Auswirkungen der Migration auf die Entwicklung der Gemeinschaft untersuchten.»

In allen Ecken Europas
Nach einem Bachelor in Bukarest und einem Master in Budapest forschte die Soziologin Ruxandra Oana Ciobanu zunächst in Hamburg und dann in Edinburgh. Die 1979 geborene Rumänin promovierte 2009 an der Universität Osnabrück (D). Nach einer Zwischenstation bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf nahm sie ihre Forschung in Lissabon wieder auf. Als sie nach Genf zurückkehrte, war sie zunächst für die Fachhochschule Westschweiz und anschliessend für die Universität Genf tätig. Seit September 2021 ist sie Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne der HES-SO..

Diese Erfahrung hat sie geprägt. «Wir wohnten über einer Tankstelle und gingen von Tür zu Tür», erinnert sich die gut 40-Jährige. Rückblickend sieht sie diese erste Arbeit im Feld als Initiationserlebnis. «Ich habe die Interaktion mit den Menschen, die wir befragten, geliebt. Dumitru Sandu hat uns gezeigt, wie wir das Gespräch möglichst wenig beeinflussen. Das war ausserordentlich lehrreich.» Die Forscherin ist hervorragend organisiert, so hat sie auch für dieses Interview mehrere Notizblätter vorbereitet. Aber sie kann sich gut davon lösen und auf die Gesprächspartnerin eingehen.

Rentnerinnen in Spanien gehören dazu

Nach dem ersten Einsatz in Rumänien liess das Thema Migration die Studentin aus Constanța am Schwarzen Meer nie mehr los. «Ich weiss selber nicht genau, weshalb gerade dieses Thema mich so interessiert», wundert sie sich. «Einmal bin ich kurz in eine andere Richtung gegangen, bin aber bald wieder umgekehrt. » Der Zufall oder das Schicksal wollte es, dass die junge Frau nach ihrem Bachelor selbst zur Migrantin wurde. Ihr Studium führte sie immer weiter westwärts. Zuerst nach Budapest, dann nach Hamburg, Edinburgh, Genf und Lissabon. «Jedes Jahr im Herbst bin ich losgezogen.»

Wie ihre Studienobjekte, entwickelte auch die Forscherin ihre eigenen Strategien zur Integration. Allem voran mit Capoeira. Die Tanz- Kampf-Sportart hat sie während ihres Doktorats in Deutschland entdeckt. «Dieser Sport nimmt viel Zeit in Anspruch, mit mehreren Trainings pro Woche und Abenden am Wochenende, sodass schnell enge Beziehungen entstehen», erklärt sie. «Er war mein Weg, mich mit viel Spass zu integrieren.»

«Wir haben realisiert, dass man sich unter einem Migranten häufig einen jungen Mann vorstellt, der zum Arbeiten in ein Land kommt.»

In Lissabon, am westlichsten Punkt ihrer bisherigen Wanderschaft, fand Oana Ciobanu zusammen mit Professorin Margarida Marques eine wenig erforschte Nische: ältere Migrantinnen und Migranten. «Wir haben realisiert, dass man sich unter einem Migranten häufig einen jungen Mann vorstellt, der zum Arbeiten in ein Land kommt», erklärt sie. «Doch auch diese Menschen werden älter, und darüber gab es erst sehr wenig Literatur.» Ciobanu, die sich gerne als Teil einer Gemeinschaft sieht, hat daraufhin ein Netzwerk von Forschenden aus diesem Themenbereich aufgebaut. Mittlerweile gehören dazu Mitglieder aus ganz Europa, Kanada, Australien und Ecuador.

Das Forschungsfeld ist vielschichtig. «Ältere Migrantinnen und Migranten sind eine extrem heterogene Gruppe», erklärt Ciobanu. Türken, die auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland gekommen und dort alt geworden sind, gehören ebenso dazu wie englische Rentnerinnen in Spanien, ältere Kriegsflüchtlinge oder Personen mit Wurzeln in Osteuropa, die nach einer Kündigung mitten im Berufsleben ausgewandert sind.

Helferin gegen Einsamkeit

Seit Ciobanu in Genf forscht, untersucht sie unter anderem die Beziehungen älterer Rumäninnen und Rumänen in der Schweiz zu ihrem Herkunfts- und Zielland. Sie hat zudem die institutionelle und nicht institutionelle Unterstützung für Menschen aus Italien und Deutschland analysiert, die nach dem Zweiten Weltkrieg und später in die Schweiz gekommen sind. Die Ergebnisse stellte sie lokalen Behörden vor. «Eine Gemeinde, die eine Strategie gegen Einsamkeit älterer Menschen erarbeitet, hat uns kontaktiert», freut sie sich.

In ihrem neuesten Projekt befasst sie sich unter anderem mit Menschen aus Süditalien, die entweder in die Schweiz oder innerhalb Italiens in eine andere Region gezogen sind. «Normalerweise konzentrieren sich Studien nicht auf die Binnenmigration, aber warum sollte es einen Unterschied machen, ob sich ein Migrant aus Sizilien in Mailand oder in Lugano niedergelassen hat? Es ist an der Zeit, bestimmte Konzepte zu überdenken», meint die Soziologin, die Interviews immer noch gerne selbst führt. «Es ist bereichernd, die Geschichten der Menschen zu hören. Und ich kann dabei oft eine Verbindung zur Literatur herstellen.»

«Wenn man älter wird, braucht man Wurzeln.»

Ein Teil ihrer Forschung sei zwar eher theoretisch, räumt Oana Ciobanu ein, aber zum Beispiel ihre Arbeit zur Einsamkeit älterer Menschen lasse sich konkret anwenden. Den Praxisbezug will sie mit ihrer neuen Position an der HETSL noch verstärken. Der Soziologin liegt ein Projekt gegen Ageism – Diskriminierung aufgrund des Alters – besonders am Herzen. Sie verspricht sich viel davon, und sie will sogar «Forschungsthemen mit Leuten aus der Praxis entwickeln», etwa mit Sozialarbeiterinnen oder älteren Menschen.

Abgesehen vom Pendeln auf der Strecke Genf–Lausanne scheint die Zeit des Nomadentums für Ciobanu inzwischen vorüber. Es war «ein Freudenmoment» für die Forscherin, als sie in Genf erstmals Abstimmungsunterlagen erhielt. Sie empfand aber «fast etwas Panik» bei der Vorstellung, so lange an einem Ort zu bleiben. «Wenn man älter wird, braucht man Wurzeln», philosophiert sie. «Ausserdem ist mein Leben inzwischen komplexer.» Sie hat einen italienischen Automatisierungsingenieur geheiratet, mit dem sie zwei Töchter im Alter von 3 und 6 Jahren hat. «Doch obwohl ich sesshaft geworden bin, kann ich dank meiner Forschung kreativ, mobil und dynamisch bleiben.»
Wenn man älter wird, braucht man Wurzeln.»

«Manche Ausgewanderte müssen nach ihrer Rückkehr in die Heimat nochmals ganz von vorn anfangen.»

Welche Art von Migrantin im Alter wird sie selbst dereinst sein? Zum Beispiel eine, die im Herkunftsland ihres Mannes lebt: «Es wäre schön, den Ruhestand in Rom oder Florenz zu verbringen.» Ciobanus Fachwissen führt sie jedoch zu pragmatischen Überlegungen: «Wir werden ein Krankenhaus in der Nähe brauchen.» Sie wisse ausserdem, dass die Beziehungen zum Herkunftsort mit zunehmendem Alter unsicher würden, sodass «manche Ausgewanderte nach ihrer Rückkehr in die Heimat nochmals ganz von vorn anfangen müssen». In Genf hätten sie ein Leben. «Manchmal scherzen mein Mann und ich darüber, dass wir in ein Altersheim im Quartier Pâquis ziehen werden, wo wir uns kennengelernt haben!»