Stimmenzählende bei der Arbeit: Diskurs und Partizipation sind das Rückgrat der direkten Demokratie, wie Politikwissenschaftler Urs Bieri sagt. | Bild: Ehrenzeller/Keystone

Beim Frühstück auf dem Smartphone eine Petition unterzeichnen, anschliessend online einen Vorschlag für die Umnutzung der alten Dorfschule unterstützen und vor dem Schlafengehen noch schnell am Laptop das Parlament wählen: Die Digitalisierung macht auch vor der Demokratie nicht halt. Gerade hier kann das Motto «move fast and break things» von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg verheerende Auswirkungen haben. Werden demokratische Prozesse in den digitalen Raum umgesiedelt, müssen Chancen und Risiken sorgfältig verstanden und abgewogen werden.

In der Schweiz stand das Abstimmen übers Internet lange im Fokus. Seit fast 20 Jahren wurden in verschiedenen Kantonen Systeme zur elektronischen Stimmabgabe getestet. Doch 2019 tauchten gravierende Sicherheitslücken auf, die Wahlmanipulationen zuliessen. So wurden die Bemühungen vorläufig auf Eis gelegt. Dieses Jahr wagt die Bundeskanzlei einen neuen Anlauf. «Aber digitale Demokratie geht weit über E-Voting hinaus», erklärt Uwe Serdült. Am Zentrum für Demokratie Aarau erforscht er den Einfluss digitaler Technologien auf die Demokratie. Sie umfasst auch politische Bildung, digital unterstützte Entscheidungsfindung und die Transparenz von Verwaltung und Parlament.

Mehr Formen der Partizipation möglich

Wie weit die digitale Demokratie in einem Land schon fortgeschritten ist, lässt sich nur schwer messen – eine einheitliche Definition gibt es nicht. Im Forschungsprojekt «Index digitale politische Partizipation» untersucht Serdült, wie stark der Austausch zwischen Bevölkerung, zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Stellen in den verschiedenen Phasen des politischen Prozesses durch das Internet erleichtert ist.

Die Uno misst mit dem E-Participation Index, wie gut die Öffentlichkeit digital via Information und Konsultation in Entscheidungen eingebunden ist – die Schweiz liegt im europäischen Vergleich mit Rang zehn im Mittelfeld. Weiter misst die Uno mit dem E-Government Development Index unter anderem, wie gut sich Behördengänge online tätigen lassen. Auch hier liegt die Schweiz auf Rang zehn in Europa.

«Es ist eine offene Frage, was mit dem direktdemokratischen System geschieht, wenn wir vier Mal im Jahr je über fünfzehn verschiedene Vorlagen abstimmen müssen.»Uwe Serdült

Eine digitale Demokratie bietet offenkundige Vorteile: Mehr Menschen können sich am politischen Prozess beteiligen, indem sie Projekte oder Vorstösse unterstützen oder mitgestalten – das hilft auch jenen, die sonst von der Demokratie ausgeschlossen sind: Migrantinnen und Menschen mit Beeinträchtigungen. Dank Diensten wie Smartvote können Wählende einfach die passenden Kandidaten finden und mit Lobbywatch Interessenbindungen von gewählten Politikerinnen überprüfen. Digitale Mittel könnten Behörden auch dabei helfen, die Bedürfnisse der Bevölkerung besser zu verstehen.

Ausgerechnet das viel diskutierte E-Voting spielt dabei eine untergeordnete Rolle. «Unsere Forschung zeigt, dass E-Voting die politische Landschaft kaum verändert», erklärt Serdült. Weder die Stimmbeteiligung noch das Stimmverhalten veränderten sich durch das elektronische Abstimmen merklich.

Direkterer Draht zur Politik

Anders sieht es beim E-Collecting aus – bei der Unterschriftensammlung für Referenden und Initiativen im Netz. Im Lockdown war es schwierig oder sogar verboten, auf der Strasse Unterschriften zu sammeln. Plattformen wie «wecollect» helfen zwar dabei, die Sammlung im Internet zu organisieren. Eine Initiative online zu unterschreiben, ist aber weiterhin nicht möglich. «Mit E-Collecting könnten mehr Vorstösse zur Abstimmung gebracht werden», erklärt Serdült. Doch er warnt vor möglichen Folgen: mehr Aufwand für die Parlamente und höhere Anforderungen an die Stimmbevölkerung.

«Es ist eine offene Frage, was mit dem direktdemokratischen System geschieht, wenn wir vier Mal im Jahr je über fünfzehn verschiedene Vorlagen abstimmen müssen», meint Serdült. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sollen über Gesetze und Verfassungsänderungen informiert werden und frei entscheiden können. Aber nicht alle haben Lust oder Zeit, sich rund um die Uhr mit Politik zu befassen, egal ob in den Medien oder am Smartphone.

«Vielleicht müssen wir in einer digitalen direkten Demokratie das Dogma überdenken, dass das Volk über alles abstimmen muss.»Uwe Serdült

«Vielleicht müssen wir in einer digitalen direkten Demokratie das Dogma überdenken, dass das Volk über alles abstimmen muss», sagt Serdült. Er blickt nach Taiwan, Österreich oder Finnland, wo digitale Bottom-up-Tools die Funktion eines Sensoriums haben. «Sie spüren Themen und Anliegen in der Bevölkerung auf und spülen diese ins Parlament.» In Taiwan werden zum Beispiel über «Join» – die nationale Plattform für Bürgerbeteiligung – nicht nur öffentliche Budgets verständlich gemacht, sondern auch E-Petitionen lanciert, auf die die Ministerien reagieren müssen.

Ein willkommener Prozess, der digital sehr gut funktioniere. Auch das digitale Vorzeigeland Estland sei lehrreich – für Serdült jedoch aufgrund der geringeren Partizipationsmöglichkeiten vor allem hinsichtlich digitaler Behördengänge: Steuern einreichen, Umzüge und Firmen anmelden, rechtsgültig Verträge unterschreiben.

Vorsicht vor Desinformation

Je digitaler und informeller der politische Diskurs wird, desto grösser wird auch die Gefahr von Desinformation und Fake News. Plattformen, soziale Netzwerke und politische Werbung sind eng mit der Digitalisierung der Demokratie verwoben. Personalisierte Werbung ist aus der Demokratie nicht mehr wegzudenken – wie der Cambridge-Analytica- Skandal deutlich machte.

Wie gross die Bedeutung solcher Entwicklungen auf die freie Meinungsbildung ist, erforschten Urs Bieri und sein Team jüngst in einer Studie der Stiftung für Technologiefolgenabschätzung. «Der private Informationsaustausch auf Facebook oder Whatsapp ist rechtlich nicht steuerbar», erklärt Bieri. Falschaussagen lassen sich – im Gegensatz zu jenen im Abstimmungsbüchlein – nicht sanktionieren. «Zudem gilt das Recht auf freie Meinungsäusserung», betont Bieri.

«Die Schweizer Stimmbevölkerung hat durch die direkte Demokratie eine stabile Widerstandskraft gegen Manipulationsversuche entwickelt.»Urs Bieri

In den USA, wo die Plattformen beheimatet sind, ist dieses umso wichtiger. «Vor allem ist das Geschäftsmodell von Facebook und Co. kein politisches.» Weil diese bei sich keine politische Verantwortung sehen, lassen sich leicht Desinformation und Fake News verbreiten. Ältere Generationen sind dafür besonders anfällig. 2019 zeigte eine Studie in Science Advances: je älter, desto wahrscheinlicher, dass Menschen über Facebook oder Whatsapp Falschnachrichten weiterverbreiten. Über 65-Jährige teilen diese sieben Mal häufiger als 18- bis 29-Jährige.

Auch wenn die Wählerinnen und Wähler in der Schweiz im Durchschnitt 57 Jahre alt sind, relativiert Bieri die Gefahr für die Schweizer Demokratie. «Die Schweizer Stimmbevölkerung hat durch die direkte Demokratie eine stabile Widerstandskraft gegen Manipulationsversuche entwickelt », erklärt er. «Und Polarisierung und Populismus beobachten wir international schon seit Jahrzehnten.» Die Digitalisierung sei hier eher ein Beschleuniger als ein Auslöser. Für Bieri muss die digitale Demokratie mit einer lebenslangen politischen Bildung einhergehen.

So empfiehlt die Studie, dass die öffentliche Hand die Bevölkerung über die Risiken politischer Information im Internet aufklären und das systematische und öffentlich sichtbare Prüfen von politischen Aussagen fördern solle. «Diskurs und Partizipation sind das Rückgrat der direkten Demokratie », sagt Bieri. «Digitale Instrumente können hier sehr helfen. Gerade deshalb müssen wir sie mit offenen Armen empfangen.»