Je stärker sich die kosovo-albanische Minderheit mit der Schweiz identifiziert, desto weniger engagiert sie sich für die eigene Ethnie. | Bild: Keystone / Gian Ehrenzeller

Bisher glaubte man in der Sozialwissenschaft: Je stärker sich Mitglieder einer benachteiligten Minderheit mit der Mehrheitsgruppe identifizieren, desto schwächer ist ihr Engagement für ihre eigene Bevölkerungsgruppe. Adrienne Giroud von der Universität Lausanne hat in ihrer Doktorarbeit das Gegenteil herausgefunden: In Bulgarien lebende Roma, die sich stark mit der bulgarischen Nationalität identifizieren, setzen sich überdurchschnittlich für ihre eigene Ethnie ein.

«Wir wussten zunächst nicht, wie wir dieses Resultat interpretieren sollten», räumt sie ein. In einem zweiten Teil befragte Giroud dann Mitglieder der kosovo-albanischen Minderheit in der Schweiz. Dabei erhielt sie völlig andere Resultate: Je stärker sich kosovo-albanische Einwanderer mit der Schweiz identifizieren, desto weniger setzen sie sich für ihre eigene Bevölkerungsgruppe ein. Giroud arbeitete mit dem Mixed-Methods-Ansatz. Dabei werden quantitative Daten sowie qualitative Daten aus Interviews analysiert. Insgesamt 320 Roma aus Bulgarien und 154 kosovo-albanische Einwanderer in der Schweiz füllten schriftlich Fragebögen aus, zudem wurden zehn Roma-Bulgaren in persönlichen Interviews befragt.

Adrienne Giroud betont: «Duale Identitäten sind ein komplexeres Thema als bisher angenommen. Sie hängen stark davon ab, wie ethnische und nationale Identitäten in verschiedenen nationalen Kontexten definiert werden.» Eine wichtige Rolle spiele dabei die Haltung der Staaten gegenüber ihren Minoritäten. Künftig, so die Forscherin, sollten die jeweils einzigartigen Voraussetzungen ethnisch-nationaler Doppelidentitäten genauer betrachtet werden, um Minderheiten besser zu verstehen.

A. Giroud: Dual identities, intergroup contact, and political activism among minorities: The case of Bulgarian Roma and Kosovo Albanians in Switzerland. Doctoral thesis (2019)