Die «Brandrede» von Bundesrat Giuseppe Motta zum Aufnahmegesuch der Sowjetunion in den Völkerbund. Historiker Sacha Zala im Bundesarchiv Bern. | Bild: Valérie Chételat

«Diese Art von Kommunismus bedeutet auf jedem Gebiet – auf dem der Religion, der Moral, der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft – die gründlichste Verneinung aller Ideen, auf denen unser Wesen und unser Leben beruht», warnte der Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta am 17. September 1934 in Genf vor dem Völkerbund. Der CVP-Bundesrat vertrat ohne diplomatische Rücksicht seine christlich geprägte antikommunistische Haltung. Kurzum – Motta ging mit seiner «Brandrede» in die Geschichte der internationalen Beziehungen ein. «Die Schweiz ist der einzige Staat, der auf Grund eines Volksentscheids, einer Abstimmung des Volks und der Kantone in den Völkerbund eingetreten ist», erklärte er weiter. Ganz anders lief es in der Sowjetunion unter Regierungschef Molotow 1934. Das Aufnahmegesuch der Sowjetunion in den Völkerbund war denn auch das brisante Traktandum an dieser Versammlung. Wer sich für die ganze Rede interessiert, kann auf Dodis, der Datenbank für diplomatische Dokumente der Schweiz, die 16 Seiten lesen – in vier Sprachen. Handgeschrieben in blauer Tinte findet sich die französische Version. Dabei hat der Magistrat Worte gemalt, ganze Sätze durchgestrichen, umgeschrieben oder unterstrichen. Seine Emotionalität ist nicht nur inhaltlich, sondern auch aus dem Schriftbild ersichtlich.

Traubenbeeren und Kerzen

Was Giuseppe Mottas Ausführungen mit der Neutralität der Schweiz zu tun haben und was mit der Offenheit der Schweiz, dem vielgelobten Internationalismus, geschehen ist, beschäftigt Sacha Zala. Er leitet das Forschungsinstitut Dodis, kurz für Documents Diplomatiques Suisses. Die Forschungsthemen werden Zala sicher nicht ausgehen: Im Bundesarchiv lagern 66 Kilometer Archivschachteln, so lang ist die Strecke zwischen Bern und Olten. Sie sind prall gefüllt mit Briefen, Manuskripten und Berichten. «Wir sichten im Jahr rund zwei Millionen Dokumente», erklärt der Historiker. «Etwa 2000 Dokumente, ein Promille davon also, publizieren wir als Faksimile zusammen mit hochwertigen Metadaten. 200 werden zusätzlich transkribiert und annotiert.» Dabei analysieren die Forschenden jedes einzelne Wort und rekonstruieren Unterschriften, wenn nur ein Kürzel das Dokument zeichnet. Das Dodis-Team sucht nach Quellen, vernetzt Personen und Organisationen und findet so neue Zusammenhänge. Sacha Zala nennt seine Forschungsmethode das «Traubenbeeren-Prinzip». Ein Dokument wird mit einer Vielzahl anderer Online- Ressourcen vernetzt.

«Wir sichten im Jahr rund zwei Millionen Dokumente.»

«Wir laufen wie mit einer Kerze durch das Archiv und verschaffen uns so einen 360-Grad-Überblick», beschreibt Zala diese Grundlagenforschung. «Mit der Auswahl bestimmen wir sogenannte Leuchtturm- Dokumente. Das sind zentrale Quellen, die den Zeitgeist und das Epochale repräsentieren. » Diese Analyse wird in Zukunft für Studierende und Doktorierende eine Hilfe sein, da sie ihre Arbeiten darauf aufbauen können. Auch das Aussenministerium und die ganze Bundesverwaltung können sich so rasch über ihre Geschichte informieren. Hinzu kommen politisch interessierte Journalisten und ein breites Publikum, das online relevante Quellen findet. Ein neuer Überblick wird im kommenden Herbst fertig sein – pünktlich zum 100. Jahrestag der Gründung des Völkerbundes 1919. Zalas Team erforscht zurzeit dessen Geschichte mit rund 60 Leuchtturm-Dokumenten. Weitere 500 werden zum Jubiläum online sein. «Der Völkerbund war eine Verdichtung der damals herumschwirrenden Galaxien von internationalen Organisationen mit einer noch nie dagewesenen politischen Vernetzung der Schweiz.» Sacha Zala berichtet von den internationalen Beziehungen und warum Genf durch den Multilateralismus zur Welthauptstadt aufstieg. Im Herbst wird er die Open-Access- Publikation «La Suisse et la construction du multilatéralisme» präsentieren. Übrigens: Auch an der Jubiläumsfeier des Völkerbundes spielt ein Tessiner Bundesrat eine Rolle: der Aussenminister Ignazio Cassis.