Bücher für den heissen Sommer
Poesie, Krimi oder Tagebuch: Wissenschaft muss nicht immer sachlich sein. Horizonte hat für Sie die neuesten Schweizer Bücher mit Forschenden als Autoren oder Protagonisten rezensiert. In der Auswahl aus Laborgeschichten, Romanen von klugen Köpfen und lockerem Comic gibt es für alle eine gute Ferienunterhaltung.
Vorwärts im Krebsgang
Anna Stern:
Wild wie die Wellen des Meeres
Salis-Verlag 2018
Im Mittelpunkt steht die Protagonistin Ava Garcia; eine rätselhafte junge Frau, mehr den Vögeln als den Menschen zugetan. Ihre Geschichte bewegt sich auf einem Erzählstrang vorwärts: Ava flüchtet vor ihrem Leben und vor ihrem Paul auf eine abgelegene Forschungsstation in Schottland. Sie findet sich neu in der kargen Umgebung zurecht; sie forscht, sie wandert, sie hat eine Affäre. In dazwischengeschobenen Kapiteln wird ihr Leben rückwärts erzählt; bis zu einem prägenden Kindheitstrauma, das sogar ihre Augen aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Eines ist «stockentengrün» geblieben, das andere Auge ist ergraut.
Es ist bereits das vierte Buch der erst 29-jährigen Autorin und Naturwissenschaftlerin Anna Bischofberger alias Anna Stern. Sie wagt so einiges; wirbelt die Leser nicht nur chronologisch herum, sondern auch sprachlich. Rhythmus und Stil ändern immer wieder die Richtung. Passagenweise dokumentiert sie Tagesabläufe fast protokollarisch, reiht nüchtern Hauptsatz an Hauptsatz, wiederholt und wiederholt. Dann presst sie gleich mehrere Metaphern in einen Satz, werden Fenster zu «Leerstellen, Löchern in der Nacht», ziehen sich Sterne «wie die Fussabdrücke eines Wasserläufers über den Himmel». Dazu ergänzt sie den Text mit Fotos, handschriftlichen Notizen, englischen Liedzeilen.
Der Roman hat eigentlich von allem zu viel – Nebenfiguren, Details, Seiten. Trotzdem entwickelt er gerade dank seiner Eigenwilligkeit einen eigentümlichen Sog. Wie das Meer. sp
Arche Noah reloaded
André Ourednik und François Burland:
Atomik Submarine
fiction 2018
Acht Jahre später erhält dieses U-Boot mit Atomik Submarine von André Ourednik ein literarisches Gesicht. Die weltfremde Reise mit schrägen Abenteuern in einer ausgefallenen Sprache weckt anarchistischfuturistische Assoziationen. Ins Bild passen da auch die surrealen Collagen von Burland, die dieses gelungene Werk im Grossformat illustrieren: Raketen, Zeppeline, Taucher und ein amputierter Eiffelturm.
Diese «Utopie-Arche» erzählt uns ihre eigene Odyssee und leiht sich dazu die vereisten Stimmen und Worte der «mužiks»- Passagiere, die von drei prometheischen Verrückten aus dem originellen Chaos gerettet werden. Zahlreiche weitere Welten auferstehen in diesem Bericht, der mit Anspielungen gespickt ist: Gilgamesch, Jonas, Tinguely, Moby Dick, Nietzsche und nicht zuletzt die sowjetische Superheldin Oktobriana.
Gelingt es dieser neuen Arche Noah, eine radikal andere Realität zum Leben zu erwecken? Ist das Zusammenspiel aller denkbaren technischen, poetischen und literarischen Virtualitäten möglich, ohne die eigene Absurdität auszuschliessen? Denn offensichtlich steht dieses subversive U-Boot selber lediglich als Metapher für das gesamte Werk, das mit der Mission ausläuft, all unsere festen Vorstellungen zu torpedieren und davon nur noch Schall und Rauch übrig zu lassen. Ein Buch für Forschende mit wahrhaft experimentierfreudiger Seele. jfd
Als würde man träumen
Thilo Krause:
Was wir reden, wenn es gewittert
Carl Hanser Verlag 2018
DNA-Sequenz, die alles ändert
Stefan Catsicas:
La Séquence
Favre 2018
Stefan Catsicas, der Autor des Thrillers La Séquence, forschte als Professor im Bereich Zellkulturen an der EPFL und war Manager bei Nestlé. In seinem ersten Roman mischt er Wissenschaft, Mythologie und Spiritualität und wagt sich an die grossen Fragen: den Ursprung der Menschheit, die Rolle von Vererbung und Umwelt, den Übergang zum Monotheismus. Seine Hypothese: Unsere Gene beeinflussen auch unsere religiösen Einstellungen. Das Buch wagt Science-Fiction, lässt sich von etablierten Theorien manchmal leiten, manchmal nur inspirieren. Ein rasanter Abenteuerroman, der ohne stilistische Schnörkel auskommt. zs
Mord, Gift und Shakespeare
Ashley Curtis:
Hexen Einmaleins
Kommode Verlag 2019
Autor Curtis’ Romanfiguren stammen aus einer etwas weltfremden Geisteswissenschaft. Er versteht jedoch britischen Humor, und Spannung ist garantiert. fs
Bäume bringen Apokalypse
Zep:
The End
Rue de Sèvres 2018
Auf dieser zuweilen bestrittenen «pflanzlichen Intelligenz» – namentlich durch den Biologen Francis Hallé, der Zep als Modell dient – wird eine symbolträchtige Erzählung aufgebaut, in der Botaniker mit einer durch Bäume inszenierten Apokalypse konfrontiert sind. Eine grafisch überzeugende Warnung, untermalt vom gleichnamigen Song von The Doors. bs
Gehirn ohne Körper
Beat Glogger:
Zweimaltot
Reinhardt 2019
In Zweimaltot verwebt Beat Glogger Persönlichkeiten, radikalen Tierschutz und gruselige Science-Fiction zu einer packenden Geschichte. Einziger Makel seines neusten Buches: Der Wissenschaftsjournalist versucht immer wieder Fakten zu vermitteln. Besonders in den Selbstgesprächen von Tina wirkt das unnatürlich. Zum Beispiel, wenn sie sich fragt, ob Frank trotz Lähmung an seine Arme und Beine denken kann: «Selbst nach einer Amputation empfinden die Patienten Schmerzen in den Gliedmassen, die sie gar nicht mehr haben. Phantomschmerz nennt man das.» ff
Bewusstsein auf Datenträger
Prix de l’Ailleurs 2018:
Et si l’humanité devenait numérique ?
Hélice Hélas 2018
Eine Aufgabe der Fiktion ist erfüllt: das Ungedachte zu denken, unsere gebeutelte Menschheit zu bewahren und dem Irrationalen von neuem Platz einzuräumen. jb
Unverhoffte Liebe in Istanbul
Angelika Overath:
Ein Winter in Istanbul
Luchterhand 2018
Ode an das Übernatürliche
Daniel Sangsue:
Journal d’un amateur de fantômes
La Baconnière 2018
Der Autor äussert sich besorgt über eine Gesellschaft, die «das Übernatürliche nicht mehr ernst nimmt», oder dass die von ihm geliebten Buchhändler durch «geisterhafte» virtuelle Läden verdrängt werden. Die für Daniel Sangsues Arbeiten essenzielle «Slow Science» werde durch das Diktat der modernen Forschung bedroht: Planung, Zusammenarbeit und Produktivität. Er präsentiert moderne Formen des Spiritismus im 21. Jahrhundert und weigert sich, eine Welt verschwinden zu sehen, die das Übersinnliche, Unerklärliche, den Glauben und die Intuition nicht nur toleriert, sondern kultiviert. ds