In den Social Media zu Hause: Die Forscherin Sandra Cortesi bleibt bei Whatsapp, Wechat, Facebook, Instagram, Snapchat, Youtube und Twitter auf den Laufenden. Bild: Valérie Chételat

Auf die Frage, welche Online-Plattform sie am meisten benutzt, gibt Sandra Cortesi eine wenig aufregende Antwort: den E-Mail-Account. «Dabei finde ich Mails eigentlich unmöglich», sagt sie und lacht. Aber bei der Arbeit laufe halt noch immer der grösste Teil der Korrespondenz auf diesem Weg. Die 35-Jährige ist Direktorin des Projekts «Youth and Media» des Berkman Klein Center, einer Forschungseinrichtung der Eliteuniversität Harvard in Cambridge. Seit neun Jahren erforscht die Schweizerin den Einfluss des Internets und der Digitaltechnologien auf Jugendliche. Sie will herausfinden, wie sie sich online bewegen – und was sie bewegt.

Jugendliche kümmert Privatsphäre

Das Besondere: Cortesi tut dies nicht in ihrem Kämmerchen, sondern bezieht ihren Forschungsgegenstand – Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren – aktiv mit ein. So können sich Jugendliche ab 16 Jahren etwa als Mitarbeiter und Sommerpraktikanten in ihrem Forschungsteam bewerben. Weiter geht Cortesi an Schulen, arbeitet mit internationalen Organisationen zusammen und tauscht sich mit ihrer Zielgruppe aus. Oder die Jugendlichen suchen ihr Büro auf, das nachmittags als Treffpunkt offen steht. «Als Erwachsener kann man die relevanten Themen oft nicht erkennen», erklärt Cortesi.

Ihre Schwerpunkte drehen sich vor allem um Identitätsbildung im Netz, Privatsphäre und Informationsqualität. Themen, zu denen junge Menschen durchaus eigene Standpunkte haben, wie Cortesi betont. «In den neun Jahren Forschung hat mir noch nie jemand gesagt: Privatsphäre ist mir nicht wichtig.» Jugendliche hätten lediglich ein anderes Konzept davon. So würden sich viele sehr ausführlich Gedanken darüber machen, welchen Personen aus ihrem sozialen Umfeld sie welche Information preisgeben wollen – und mit entsprechenden Einstellungen darauf reagieren. Im Unterschied dazu verstehe die ältere Generation unter Privatsphäre eher den Schutz ihrer Daten vor Institutionen. Doch auch viele Jugendliche lasse es nicht mehr kalt, dass ihre Daten gesammelt und benutzt werden. «Da fehlt ihnen aber eine adäquate Alternative», so Cortesi.

In vielen Welten zu Hause
Sandra Cortesi ist 1983 in Venezuela geboren und wuchs bis zu ihrem elften Lebensjahr in Kolumbien auf, bevor sie mit ihrer Familie in die Schweiz zog. Sie studierte Psychologie mit Fokus Mensch-Maschinen-Interaktionen an der Universität Basel. Seit 2009 ist sie Direktorin des «Youth and Media»-Projekts am Berkman Klein Center for Internet & Society an der Universität Harvard in Cambridge. Ihre Lebensmittelpunkte verteilen sich heute auf die Schweiz, Lateinamerika, Asien und die USA, wo sie mit ihrem Partner lebt.

Zentrale Voraussetzung für die Forschungsarbeit von Cortesi ist, dass sie stets selbst auf dem Laufenden bleibt. Von Whatsapp bis Wechat, Facebook, Instagram, Snapchat, Youtube oder Twitter – Cortesi ist überall dabei. Auch Games spielt sie regelmässig. «Schliesslich muss ich die Sprache der Jugendlichen verstehen.» Das fällt ihr nicht allzu schwer, denn sie hat schon früh die Vorteile der Online-Kommunikation entdeckt. Bis zu ihrem elften Lebensjahr lebte Cortesi mit ihrer Familie in Kolumbien. Als sich die Eltern trennten, zog sie mit der Mutter und den zwei Geschwistern in die Schweiz. Der Vater aber blieb in Kolumbien. Über ein Faxgerät blieben sie in Kontakt. Bald kam eine Dial-up-Leitung hinzu, über die sie sich mit viel Rauschen und Fiepen mit dem Internet verbinden konnte. «Das halbe Dorf kam zum Chatten zu uns», erinnert sich Cortesi. Denn damals waren in der Schweiz Internetzugänge noch eine Rarität.

Später studierte Cortesi Psychologie mit Fokus auf Mensch-Maschinen-Interaktionen an der Universität Basel. Neben dem Studium arbeitete sie als Forschungsmitarbeiterin für Urs Gasser, Professor an der Forschungsstelle für Informationsrecht an der HSG. Als er 2009 nach Harvard zog, um das Berkman Klein Center for Internet & Society zu führen, folgten ihm mehrere seiner Mitarbeiter – darunter auch die damals 26-jährige Sandra Cortesi. «Meine Aufgabe war es, sicherzustellen, dass die Perspektive der Jugendlichen stets im Vordergrund steht», sagt Cortesi. Dieser Aufgabe blieb sie bis heute treu.

Neugier statt Vorurteil

Auch in der Schweiz steigt das Interesse dafür, wie sich Jugendliche in der digitalen Welt bewegen. Ein Versuch wagt beispielsweise die Pendlerzeitung 20 Minuten mit dem Projekt «20 Minuten Youth Lab». Von Ende September an lädt die Redaktion während zwölf Wochen 25 Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren ein, um besser zu verstehen, was sie von der Medienwelt halten und was sie sich wünschen. Sandra Cortesi, die das Projekt mit ihrer Expertise unterstützt, begrüsst diesen Schritt: «Was den Einbezug der Jugendlichen in den Forschungs- und Arbeitsalltag angeht, ist in der Schweiz noch viel Luft nach oben.» Sie hofft daher, dass nach dem Projekt mit 20 Minuten andere Institutionen und Unternehmen nachziehen werden. Schliesslich werde für alle die gleiche Frage immer drängender: Wie können wir junge Menschen erreichen?

Ja, wie geht denn das? «Mit nachfragen und zuhören», antwortet Cortesi. Wenn man versuche, ihre Sichtweise zu verstehen, könne man viel lernen. Etwa, was Jugendliche unter Identität im Jahr 2018 verstehen. Wie sie Freundschaft, Familie und Beziehungen definieren. Wie sie kommunizieren und sich engagieren. Cortesi hat bereits verschiedene Modelle für mehr Einbezug der Jugendlichen konzipiert – physische und digitale, individuelle und solche für Gruppen, beobachtende oder partizipative. Unternehmen könnten beispielsweise einen physischen Raum als Treffpunkt anbieten oder sich von einem Gremium junger Menschen beraten lassen. Eine andere Möglichkeit sind digitale Plattformen, auf denen Jugendliche ihre Bedürfnisse kundtun und mit erwachsenen Entscheidungsträgern diskutieren können. Etwas simpler, aber nicht weniger effektvoll könnten gezielte Schulbesuche sein, wie sie auch Cortesi in den USA praktiziert.

Das wichtigste aber sei stets: die Jugendlichen ernst zu nehmen. Zu meinen, sie seien alle smartphoneabhängig, ist viel zu kurz gedacht. Cortesi: «Nur weil sich ihr Nutzungsverhalten von unserem unterscheidet und wir es nicht immer verstehen, heisst das nicht, dass es schlecht ist.» Anstatt zu urteilen, empfiehlt Cortesi, neugierig zu sein. Und am besten, man fange noch heute damit an. «Es gibt noch so viel zu fragen.»

Samanta Siegfried ist freie Journalistin in Basel.