Flüchtende Menschen, die im Herbst 2015, auf der griechischen Insel Lesbos ankommen.| Bild: shutterstock/Nicolas Economou

In der europäischen Asylpolitik gibt es mehr Raum für faire Lösungen, als man denkt, zu diesem Schluss kommt Dominik Hangartner, Professor für Politikanalyse an der ETH. Er ist Koautor einer Studie der Universitäten Zürich, Stanford und der London School of Economics, in der sich 18 000 Europäerinnen und Europäer aus 15 Ländern zu zwei Themen äusserten. Erstens: Welche Art von Asylsuchenden sind willkommen? Zweitens: Wie sollten sie auf die Länder verteilt werden? Die Antworten zeigen eine Mischung aus eigennützigen und solidarischen Motiven. «Bevorzugt werden jüngere, gut ausgebildete Menschen», sagt Dominik Hangartner. Also solche, die etwas leisten können und nicht etwa die Sozialwerke belasten. Aber auch humanitäre Gründe spielen eine Rolle: Asylsuchende, die gefoltert wurden, traumatisiert oder behindert sind oder ihre Familie verloren haben, werden eher akzeptiert. Dies steht weitgehend im Einklang mit dem internationalen Flüchtlingsrecht – ganz im Gegensatz zu einem dritten markanten Ergebnis: Muslime sind weniger willkommen als Christen.

Selektion nach Ausbildung

Diese Muster lassen sich überraschenderweise in allen sozialen Gruppen und in allen Ländern beobachten, mit nur kleinen Abweichungen. Beispielsweise ist auch, wer politisch links steht, Muslimen gegenüber skeptisch, einfach weniger stark als die Rechten. Die Befragten in Polen, Tschechien und Griechenland sind besonders islamophob. In den deutschsprachigen Ländern dagegen schlägt den Menschen aus dem Kosovo mehr Skepsis entgegen als im übrigen Europa. In einem Punkt ist die Schweiz ein Sonderfall: Zwar haben die Befragten auch hier lieber Leute, die in ihrer Heimat Arbeit hatten. Im Unterschied zu anderen Ländern spielt dabei aber keine Rolle, welchem Beruf sie nachgehen. Ärztin, Lehrer, Putzmann oder Bäuerin – alle sind gleich gern gesehen. Überall sonst gibt es eine Hierarchie: Je akademischer die Ausbildung, desto besser. Hangartner mutmasst, das könnte daran liegen, dass die Berufsbildung hierzulande relativ hohe Anerkennung geniesst.

Beim Verteilmechanismus konnten die Befragten zwischen drei Modellen wählen: Status quo, gleiche Anzahl für jedes Land und Verteilung nach Grösse und Wirtschaftskraft. Die letzte Lösung fand in jedem Land die grösste Zustimmung, durchschnittlich sprachen sich 72 Prozent dafür aus. «Das Prinzip ist intuitiv einsichtig und fair», erklärt Hangartner. «Dass mehr trägt, wer mehr tragen kann, ist eine starke Norm.»

Ego siegt trotzdem nicht

Die hehren Grundsätze gerieten aber rasch unter Druck: In allen zehn Ländern, die dann mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten als bisher, sank die Zustimmung zu diesem System merklich. Tschechien zum Beispiel, das von allen europäischen Ländern am wenigsten Asylsuchende aufgenommen hat, müsste fast 25 Mal mehr Asylsuchende aufnehmen. Mit diesem Wissen kippte dort die Zustimmung zum Verteilschlüssel, und drei Viertel der Befragten bevorzugten wieder den Status quo. Ganz anders in Deutschland. Kein anderes europäisches Land nahm in den letzten Jahren – relativ und absolut – so viele Flüchtlinge auf, Deutschland würde also durch einen proportionalen Verteilschlüssel massiv entlastet. Trotzdem war dort die grundsätzliche Zustimmung zum neuen System mit 58 Prozent zunächst unterdurchschnittlich, stieg aber um 10 Prozent, wenn die Konsequenzen bekannt wurden.

Anzahl der Asylgesuchstellenden im Jahr 2016 pro 10 000 Einwohner: Mit einem Verteilschlüssel für Asylsuchende nach Grösse und Wirtschaftskraft müsste Tschechien mehr aufnehmen, Deutschland weniger.

Die Schweiz gehört zu jenen drei Ländern, die am deutlichsten zum fairen Verteilschlüssel stehen. Fast 80 Prozent der Befragten sind damit einverstanden. Der Prozentsatz sinkt allerdings um über 20 Prozent, wenn die Befragten erfahren, dass die Schweiz dann zu den gut 37 000 Asylsuchenden noch rund 2000 mehr aufnehmen müsste. «Wir beobachten in allen Ländern zwei Hauptkräfte: Egoismus und Fairness», sagt Hangartner. Neu und für ihn überraschend am Befund ist, welch starke Bedeutung die Fairness für die Stimmbürgerinnen und -bürger Europas hat: Eine Mehrheit von 55 Prozent unterstützt den proportionalen Schlüssel, auch wenn sie wissen, welche Konsequenzen er hat.

Andreas Minder ist freier Journalist in Zürich.