Die Arbeit an der Promotion kann  psychisch sehr belastend sein und einsam machen, besonders wenn das Umfeld nicht stimmt. | Bild: Keystone/Martin Ruetschi

Die Zeit an der ETH war für sie die dunkelste Episode ihrer Karriere, sagte eine ehemalige Doktorandin am Institut für Astronomie der ETH Zürich im Herbst 2017 in der «NZZ am Sonntag». Über zehn Jahre lang soll eine Professorin ihre Doktorierenden schikaniert haben. Betroffene berichten von Beleidigungen, ständiger Erreichbarkeit und Sitzungen bis weit nach Mitternacht, in denen es weniger um die Forschung gegangen sei als um zwischenmenschliche Belange.

Das Institut wurde stillgelegt, eine Untersuchung eingeleitet und die Professorin vorübergehend freigestellt. Bald darauf wurden weitere Mobbingfälle öffentlich. Und eine Umfrage der akademischen Vereinigung des Mittelbaus der ETH förderte jüngst zutage, dass sich jeder vierte Doktorierende als Opfer von Machtmissbrauch betrachtet.

Es ist unwahrscheinlich, dass die ETH die einzige Hochschule mit derartigen Problemen ist. Hinter vorgehaltener Hand deuten Angehörige anderer Hochschulen ähnliche Fälle an. Haben die Schweizer Hochschulen ein Führungsproblem auf Stufe der Professorinnen und Professoren?

Starke Professoren …

Klar ist: Machtmissbrauch im Hochschulbetrieb ist kein neues Phänomen. Das Abhängigkeitsverhältnis der Doktorierenden von Doktorvätern oder -müttern liegt in der humboldtschen Tradition begründet und kann auch positive Folgen haben. «Ein Professor ist nicht nur ein Vorgesetzter, sondern im besten Fall auch ein Förderer», sagt Bildungsökonom Stefan Wolter, Direktor der Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

«Man befindet sich in einer Seilschaft, in der der Chef Gehorsam einfordert.»Stefan Wolter

Akademische Karrieren hingen auch heute noch davon ab, welcher Professor die Doktorarbeit betreut habe. «Ein Doktorand kommt aus einem bestimmten Stall», sagt Wolter. Die Beziehungen und der Ruf des Professors könnten nach der Dissertation Türen öffnen. Dafür nähmen Doktorierende auch schwierige Persönlichkeiten in Kauf. «Oft weiss man schon vorher, worauf man sich bei einem Professor einlässt.»

Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist keine universitätstypische Erscheinung. Bildungsökonom Wolter hat viele Jahre bei einer Grossbank gearbeitet und dort vergleichbare Strukturen beobachtet. «Man befindet sich in einer Seilschaft, in der der Chef Gehorsam einfordert.» Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fügten sich, weil die eigene Karriere davon abhänge. «Wird der Vorgesetzte befördert, dann wechseln die Mitarbeiter mit ihm.»

… schwaches Rektorat

An einer Hochschule kommen Faktoren dazu, die Rektorat und Präsidium allenfalls zögern lassen, gegen einen fehlbaren Professor vorzugehen und damit Machtmissbrauch zu stoppen: der internationale Wettbewerb und die Macht der Professoren. Dass fachliche Brillanz und hervorragende Führungskraft nicht unbedingt das gleiche sind, ist bekannt. Spitzenkräfte aber, selbst wenn sie menschlich schwierig sind, will man nicht verlieren.

Zudem destabilisiert jedes Einschreiten gegen einen Professor die in der Schweiz systembedingt schwache Position der Hochschulleitung. Die Professorenschaft solidarisiert sich oft mit dem betroffenen Kollegen. Exemplarisch dafür ist ein Fall an der Universität Zürich vor fünf Jahren. Im Zuge der Mörgeli-Affäre entliess der damalige Rektor eine vom Kollegium geschätzte Professorin. Der Protest war gewaltig. Der Rektor trat zurück.

Muss man Missbrauch und Führungsschwäche also einfach akzeptieren? Das gehe nur schon deshalb nicht, weil die Doktorierenden heute ein anderes Selbstverständnis hätten, sagt Antonio Loprieno, ehemaliger Rektor der Universität Basel. «Sie sind Kinder einer globalisierten Welt und lassen sich eine familienorientierte Herrschaft eines Doktorvaters weniger gefallen.»

Was also ist zu tun? Erstaunlicherweise spielt die Betreuungskompetenz bei Berufungen heute kaum eine Rolle. Erstaunlich deshalb, weil die Universitäten seit einiger Zeit die Lehrqualität jedes Dozierenden haargenau evaluieren lassen.

An eine Messung der Qualität bei der Doktoratsbetreuung hat man aber noch nicht gedacht. Dafür haben Hochschulen in den letzten Jahren zahlreiche Ombudsstellen und Anlaufstellen ins Leben gerufen. Doch sie greifen – wenn überhaupt – erst, nachdem der Machtmissbrauch bereits geschehen ist.

Idee Doktoratsschulen

Vielleicht hilft ein Systemwechsel. Mit Doktoratsschulen, wie es sie auch in der Schweiz gibt, könnte man das Abhängigkeitsverhältnis brechen. Die Kandidierenden bewerben sich bei einer Schule und nicht bei einem Professor, betreut wird die Dissertation von einem Mentor. «Doktoratsschulen könnten ein Mittel gegen den Machtmissbrauch sein», sagt Caspar Hirschi, Geschichtsprofessor an der Universität St. Gallen. «Faktisch sind sie es nicht».

Bei der Einführung sei nämlich passiert, was in der Schweiz bei Reformen üblicherweise passiere: Man habe neue Strukturen aufgebaut, ohne die alten abzureissen. Denn anders als etwa in den USA oder Deutschland erhalten Doktorierende beim Eintritt in ein Programm nicht automatisch eine Finanzierung für die Dissertationsphase.

Sie müssen sich folglich als Assistent oder Projektmitarbeiterin bei einem Professor anstellen lassen – der dann als Betreuer, Gutachter und bei Publikationen oft auch als Co-Autor fungiert. So wird die alte Abhängigkeit wieder hergestellt. Lösen lasse sich dieses Problem nur, sagt Hirschi, wenn man eine Finanzierung zusichert und Betreuung und Begutachtung personell trenne.

Wirksamer wären aus seiner Sicht Doktorandenkomitees, wie sie im Ausland verbreitet sind. Doktorierende werden von einem Team von Professoren und Professorinnen betreut. Dieses System entspringt einer amerikanischen Universitätskultur mit einer starken obersten Leitung. Mit einer «Diktatur der Professoren» habe man in einem solchen System kaum Probleme, sagt Antonio Loprieno. «Die Mobbing-Affäre an der ETH wäre mit Komitees nicht passiert.»

Dieses System verlangt allerdings «ein hohes Mass an Steuerung und Regulierung», sagt Caspar Hirschi. Nur so könne man sicherstellen, dass sich die Professoren im Komitee wirklich für den Doktoranden oder die Doktorandin zuständig fühlen. In Skandinavien werde es erfolgreich praktiziert, für die Schweiz sei ein solches Regime aus kulturellen Gründen schwer durchsetzbar. Hirschi würde das englische Modell bevorzugen. Es sieht einen Betreuer und zwei Begutachter vor – einer intern, einer extern. «Ein schlankes Modell mit klaren Verantwortlichkeiten.»

So schnell wird aber auch dieses Modell nicht an Schweizer Hochschulen eingeführt. Loprieno beobachtet zwar gegenwärtig eine Phase des Übergangs. Doch die dauern in der Schweizer Bildungslandschaft in aller Regel ziemlich lange.

Michael Furger ist Ressortleiter Hintergrund bei der NZZ am Sonntag.