Die Bewertungen auf Online-Plattformen loben eine Dienstleistung oft übertrieben stark – und sind dennoch Richtschnur für künftige Käuferinnen und Käufer. Wer verlässliche Bewertungen will, sollte sich darum auf die Kommentare von Usern stützen, die sehr häufig kommentieren. | Bild: Valérie Chételat

Ginge man nach den Bewertungen auf Internetportalen – die Welt der Waren, der Hotels und Dienstleistungen wäre perfekt. Ob auf Amazon, Expedia, Airbnb oder der Ratgeberseite «Frag Mutti», bei jedem Eintrag glänzen durchschnittlich vier bis fünf Sterne. Schlechte Noten gibt es kaum, mittelmässige  sind noch seltener. Das haben Verena Schoenmüller, Visiting Postdoctoral Research Fellow am Marketing Department der Columbia University in New York, und ihre Kollegen Oded Netzer und Florian Stahl mit 130 Millionen Bewertungen der grössten Plattformen untersucht. «Wir haben überall diese überaus ins Positive  verschobene Verteilung gefunden.» Heisst das, dass alle Angebote auf diesen Internetseiten grossartig sind? Oder sind die meisten Rezensionen gefälscht? Beides wohl nicht, wie die gemeinsame Forschung von Schoenmüller, Netzer und Stahl nahelegen.

Selber gewählt, besser bewertet

Online-Bewertungen sind ein elementarer Bestandteil von Kaufentscheidungen geworden. Gemäss einer Auswertung von 2015 lesen 90 Prozent der Menschen in Kanada und den USA, die einen Laden besuchen, vorher Rezensionen im Internet, und 88 Prozent vertrauen diesen so sehr, als ob die Bewertungen von ihnen bekannten Person gekommen wären. Online-Ratings haben einen messbaren Effekt auf die Verkäufe und sind darum für die Händler sehr wichtig. Nur: Warum sind sie so überdurchschnittlich gut?

Ein Erklärungsansatz ist, dass Käuferinnen und Käufer die sogenannte kognitive Dissonanz verringern möchten. Ein Käufer ist mit dem Produkt zwar nicht zufrieden, hat aber dafür Geld ausgegeben. Diese Unzufriedenheit kann er mindern, wenn er das Produkt positiv einschätzt. «Tatsächlich haben wir in unserer Studie gesehen, dass die Bewertung besser wird, wenn sich Probanden erst für ein Produkt entscheiden und es danach bewerten, im Gegensatz zu einem Rating vor der Entscheidung», sagt Verena Schoenmüller. «Dies legt nahe, dass kognitive Dissonanz bei den überdurchschnittlich guten Bewertungen eine Rolle spielt – wenn auch nicht die Wesentliche.»

«Die Bewertung wird besser, wenn sich Probanden erst für ein Produkt entscheiden und es erst danach bewerten.»Verena Schoenmüller

Eine andere Erklärung lassen Untersuchungen von Sean Taylor vermuten. Mit seinem Team an der Hebrew University in Jerusalem zeigte er in der Fachzeitschrift Science, dass die erste Bewertung eines Produkts  die folgenden stark beeinflusst. Mit einer guten ersten Note erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit um 32 Prozent. Das Gesamtrating verbesserte sich um 25 Prozent. In der üblichen Fünf-Sterne-Skala ist das mehr als ein Stern. «Dieser Herdeneffekt erklärt allerdings die ins Positive verschobene Verteilung der Bewertung nicht vollständig – auch die erste Bewertung ist schon überdurchschnittlich positiv», sagt Schoenmüller. Nun könne man einwenden, dass Verkäufer, um die grosse Bedeutung der ersten Bewertung wissend, diese eventuell häufig fälschten. Dass dies nicht der Grund für die durchschnittlich sehr guten Bewertungen sein kann, legt ihre aktuelle Studie nahe.

Für das zentrale Experiment teilten die Forschenden Masterstudenten in zwei Gruppen ein. Die Teilnehmerinnen in der ersten Gruppe sollten jeweils das Buch bewerten, das sie zuletzt gelesen hatten, oder das Restaurant, in dem sie zuletzt gegessen hatten. Teilnehmer der zweiten Gruppe dagegen durften frei wählen, welches Buch oder Restaurant sie bewerten sollten. Die Ergebnisse zeigen, dass Probandinnen
und Probanden signifikant bessere Noten gaben, wenn sie eine Bewertung frei wählen durften. Waren Buch oder Restaurant vorgegeben, lagen die Resultate tiefer. «Die Bewertungen bei den Selbstauswählern war so sehr ins Positive verschoben wie bei den von uns untersuchten grossen Internet-Portalen», sagt Schoenmüller. «Bei der Gruppe, die jeweils ihre letzte Erfahrung bewerten sollte, ergab sich dagegen eine
Normalverteilung der Noten.»

In anderen Worten: Konsumenten wählen und bewerten am liebsten Produkte oder Dienstleistungen, mit denen sie sehr zufrieden sind. Schlechte oder gar mittelmässige Güter sind ihnen dagegen selten eine Rezension wert. Vielmehr würden die Konsumenten ihre Entscheide oft noch anpassen, nachdem sie den Entscheid für eine Bewertung getroffen hätten, ergänzt Schoenmüller: «Aber der Grund, warum die Verteilung so ins Positive verschoben ist, liegt schon in der Auswahl, was sie überhaupt bewerten.»

Stimmen diesem Ergebnis auch andere Forscher zu, die im gleichen Feld arbeiten? «Es ist eine sehr gute und umfassende Studie von einem der angesehensten Lehrstühle auf dem Feld», lobt Nikolaos Korfiatis, Professor für Business Analytics an der Norwich Business School der University of East Anglia, die umfassende Studie. Auf dem gleichen Gebiet forschend, aber nicht in die Arbeit involviert, weist er auf einen Faktor hin, der in Studien kaum untersucht ist: den Einfluss der Zeit, die zwischen Kauf und Bewertung liegt. «Menschen tendieren dazu, Erlebnisse wie Restaurantbesuche oder die Lektüre von Büchern mit grösserem Zeitabstand besser zu bewerten als direkt nach dem Essen oder Lesen», sagt Korfiatis. «Das  könnte auch ein Grund für die positiveren Bewertungen durch die Gruppe sein, die wählen konnte, was sie bewerten wollte.»

Schoenmüller und Kollegen haben in ihrer Arbeit versucht, auch den Faktor Zeit experimentell zu untersuchen. Sie fragten die Gruppe der Probanden mit vorgegebenen Restaurants oder Büchern zusätzlich, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie in der Realität tatsächlich eine Bewertung abgegeben hätten. Auch hier zeigte sich, dass Konsumentinnen und Konsumenten vor allem dann bewerten, wenn sie das Produkt als sehr gut empfanden und entsprechend gute Empfehlungen abgaben.

Nikolaos Korfiatis sieht denn auch die Auswahl des Produkts als entscheidenden Faktor für überaus positive Bewertungen auf Online-Portalen: «Mich wundert, dass es nicht mehr schlechte Bewertungen  gibt», sagt er.

«Menschen tendieren dazu, Erlebnisse wie Restaurantbesuche mit grösserem Zeitabstand besser zu bewerten als direkt nach dem Essen.»Nikolaos Korfiatis

In früheren vergleichbaren Studien wurden zwar Bewertungen von Menschen beobachtet, die sehr zufrieden waren, aber man sah auch eine Menge schlechter Bewertungen von Kunden, die sehr unzufrieden sind. «Produkte mit schlechten Bewertungen werden heute wohl schnell aus dem Verkehr gezogen oder unter anderem Namen neu lanciert, weil sie sonst gar nicht mehr verkäuflich sind», vermutet Korfiatis.

Häufige Reviewer sind verlässlicher

Bleibt die Frage: Wie informativ sind Online-Rezensionen überhaupt, wenn sie so vielfältig verzerrt sind und es nur noch gute und sehr gute Bewertungen gibt? Die Studie deute darauf hin, dass sinnvolle Rezensionen von Kunden stammten, die sehr viel Bewertungen abgeben würden, sagt Verena Schoenmüller. «Innerhalb von deren Bewertungen gibt es eine Normalverteilung. Diese Reviews sind verlässlicher.»

Experte Nikolaos Korfiatis sieht noch eine andere Möglichkeit: Auf einigen Bewertungsportalen könnten Kunden bereits bestimmte Aspekte und Unterkriterien separat bewerten, wie etwa Akku oder Display eines Mobiltelefons. «Das ist viel aussagekräftiger als ein Gesamtrating», sagt Korfiatis. Eine letzte Möglichkeit ist das Erkennen gekaufter Bewertungen. Diese erkenne man meist daran, dass sehr viele positive oder negative Ratings in dichter zeitlicher Abfolge erstellt worden seien, erklärt Korfiatis. Wer manipulieren wolle, möchte schnell einen Effekt sehen. Er empfiehlt ausserdem, Bewertungen aufmerksam zu lesen: «Kommentare ergeben ein besseres Bild als nur die Wertung.» Aller Probleme mit den Ratings zum Trotz sehen die Wissenschaftler keinen Grund für Kulturpessimismus. «Bevor sich das Online-Rating verbreitet hat, gab es kaum eine Möglichkeit für öffentliches Feedback», sagt Korfiatis. «Online-Bewertungen machen den Service besser und die Kunden zufriedener.»

Der Wissenschaftsjournalist Frederik Jötten schreibt unter anderem für Das Magazin und die NZZ am Sonntag. Er wohnt in Frankfurt am Main.