Michoacán 2009: Die staatliche Offensive gegen die Drogenkartelle liess keinen Raum für alternative Ansätze, um das Problem anzugehen. | Bild: Keystone/AP Photo/Miguel Tovar

Staatliche Gewalt passiert nicht in einem Vakuum. Zehn Tage nach seinem Amtsantritt 2006 schickte der mexikanische Präsident Felipe Calderón 7000 Militärangehörige in den Gliedstaat Michoacán, um von dort aus den Kampf gegen die Drogenkartelle und das organisierte Verbrechen aufzunehmen. Dies mit dem Argument, die Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Der Preis war hoch für den Versuch, die Sicherheit im Land wiederherzustellen: Allein während Calderóns sechsjähriger Präsidentschaft starben mehr als 60 000 Menschen im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg.

Mexiko: tödlicher Schutz

Die Politikwissenschaftlerin Evelyne Tauchnitz nahm den Diskurs der mexikanischen Regierung kurz vor, während und nach der Lancierung der Operation Michoacán unter die Lupe. Im Rahmen ihrer Dissertation am Genfer Graduate Institute of International and Development Studies untersuchte Tauchnitz staatliche Gewalt im Lichte menschenrechtlicher Normen. Ihre Analyse zeigt, dass das Kriegsvokabular und das allumfassende Thema Sicherheit kaum Raum liessen für alternative Ansätze der Problemlösung, die nicht in das Muster einer Aufrüstung der Streitkräfte passten. Zumindest in diesem frühen Stadium des Drogenkriegs wusste Calderón die öffentliche Meinung hinter sich.

Die Drogenkartelle wurden vor allem als Bedrohung der Sicherheit, aber auch als Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes dargestellt. Ganz ausgeblendet blieb die Möglichkeit, dass Armut, Perspektivenlosigkeit und Mangel an Bildung die Hauptmotivation dafür sein könnten, weshalb junge Mexikaner in das risikoreiche, aber hochprofitable Drogengeschäft einsteigen. Auch verlor die Regierung kein Wort über die Frage, ob es überhaupt legitime Aufgabe von Armee und Marine ist, die Polizei bei der Verfolgung von Kriminellen zu unterstützen. Im Gegenteil galt das Militär als grosse Hilfe, wofür die Bürgerinnen und Bürger dankbar sein sollten.

«Die Regierung legitimiert den Einsatz von Zwangsmitteln oft mit dem Argument, die Bevölkerung gegen Sicherheitsbedrohungen schützen zu wollen», erklärt Tauchnitz. Doch von einer Demokratie wie Mexiko erwarte man auch den Respekt fundamentaler Menschenrechte. So müssten die gesetzlichen Regeln und das fundamentale Recht auf Leben aller Staatsbürger respektiert werden. «Das Beispiel des mexikanischen Drogenkriegs zeigt jedoch, dass das Recht auf Schutz des Lebens für die Legitimierung von staatlicher Gewalt instrumentalisiert werden kann.» Solange die Pflicht, Menschenleben zu schützen, nicht auch auf – potenzielle – Kriminelle angewendet werde, könne staatliche Gewalt nicht eingedämmt werden. Nur wenn der Schutzanspruch für alle gelte, erhöhe dies die Wahrscheinlichkeit, dass eine Regierung im Konflikt auf friedlichere Methoden zurückgreife.

Indien: einmal Gewalt, einmal Frieden

Ihre Forschung führte Tauchnitz nebst Mexiko auch nach Indien. Dort untersuchte sie in zwei Fallstudien die gegensätzliche Handhabung des politischen Konflikts mit den Naxaliten, den maoistischen Rebellengruppen. Während in den Jahren 2004 und 2005 im Bundesstaat Andhra Pradesh Friedensgespräche zwischen der Regierung und Rebellenführern möglich waren, wurden 2009 im Bundesstaat Chhattisgarh die Aufständischen gewaltsam niedergeschlagen. Die Analyse dieser beiden Kapitel des ein- und desselben langjährigen Konflikts ermöglichte es der Wissenschaftlerin, die unterschiedlichen Diskurse der Schlüsselpersonen und ihre Auswirkungen im gleichen Land während Zeiten hoher Gewalteskalation und politischer Versöhnungsversuche mit den Rebellen zu vergleichen.

Dabei zeigte sich im Fall von Andhra Pradesh, dass die Entscheidungsträger den Konflikt unter sozioökonomischen Aspekten wie Armut, Ungleichheit oder Landbesitz einordneten. Dieses Muster suggerierte, dass es Landreformen braucht, um die Armen vom Kampf gegen die Regierung abzubringen. Auch wurde die Frage diskutiert, wie man die Rebellen dazu bringen könnte, sich als «normale» politische Gruppierung in den demokratischen Rahmen des Staates einzubringen. Während der gesamten Friedensverhandlungen verzichtete die Regierung darauf, den Konflikt als gravierendes Sicherheitsproblem darzustellen, wie dies dann Jahre später in Chhatisgarh der Fall war. Dort war der Schutz der Zivilbevölkerung vor Attacken der Rebellen das Hauptargument dafür, dass die indische Zentralregierung Spezialeinheiten in das unwegsame Hinterland schickte. Die dortige Bevölkerung litt in der Folge nicht nur unter der Eskalation der Gewalt, sondern wurde auch verdächtigt, die Rebellen zu unterstützen. Dadurch wurde auch die Zivilbevölkerung zur Zielscheibe exzessiver Staatsgewalt.

Werkzeuge für die Diplomatie

Die Erkenntnisse aus den Fallstudien führten Tauchnitz zur Entwicklung einer Toolbox. Sie liefert Werkzeuge, um den Kontext zu entschlüsseln: Wie wird das Problem definiert und eingeordnet? Werden tiefere Ursachen von Konflikten angesprochen oder einer militärischen Lösung das Wort geredet? Wie wird der «Feind» wahrgenommen, und wie werden Identitäten konstruiert? Welche Emotionen spielen mit, welche Werte werden angesprochen?

Ein potenzielles Anwendungsgebiet sieht die Wissenschaftlerin in der Prävention von Konflikten. «Kommen gewisse Elemente im Diskurs gehäuft und in Kombination vor, könnte dies ein Hinweis auf künftige Gewaltausbrüche sein», sagt Tauchnitz.

«Das Recht auf Schutz des Lebens kann für die Legitimierung von staatlicher Gewalt instrumentalisiert werden.»Evelyne Tauchnitz

Für den Völkerrechtler und Menschenrechtsexperten Walter Kälin stellt die Forscherin mit ihrer Arbeit ein hilfreiches Analyseinstrument zur Verfügung: «Es ist sehr wichtig, dass man Konfliktsituationen differenziert versteht und aufzeigen kann, mit welchen Argumentationsmustern eine Regierung versucht, ihr Handeln zu legitimieren.» Das Fallbeispiel Mexikos belege, wie der in den Menschenrechten verankerte Schutzanspruch von Staaten missbraucht werden könne, um unzulässige Methoden einzusetzen. Erst wenn man diese Mechanismen im Detail verstehe, «kann man auch mit Gegenargumenten ansetzen». Handlungsanweisungen zu liefern sei aber nicht Aufgabe der Wissenschaft, sondern der Politik, betont Kälin. Wenn die westliche Diplomatie in einem aktuellen Konflikt wie der Verfolgung der Rohingya in Myanmar ins Gespräch kommen wolle, müsse man zunächst die Argumentationsmuster unter die Lupe nehmen.

Für Evelyne Tauchnitz ist klar: «Will man Staaten dazu bringen, Menschenrechte zu respektieren, braucht es Diskurse, die menschenrechtskonformes Handeln unterstützen.» Oder mit anderen Worten: «Ändere die Art und Weise, wie politische Entscheidungsträger ein bestimmtes Problem wahrnehmen und diskutieren, und sie werden andere Entscheidungen zur Konfliktlösung treffen.»

Theodora Peter ist freie Journalistin in Bern.