Der Physiologus Bernensis ist in Reims um 830 entstanden und liegt heute in der Burgerbibliothek Bern. | Bild: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318, f. 19v – Physiologus Bernensis

Der Löwe

Der Physiologus beginnt mit dem König der Tiere. Bereits in Ägypten und Assyrien symbolisierte der Löwe die Macht von Königen und Göttinnen, im Alten Testament repräsentiert er den erwarteten Messias (Genesis 49,9). Der Physiologus sieht in ihm Christus, indem er antike Tierkunde mit alttestamentlicher Symbolik verbindet: Der Löwe werde zunächst tot geboren und nach drei Tagen von seinem Vater zum Leben erweckt – wie Christus aus dem Grab erweckt wurde. Er verwische seine Spuren mit dem Schwanz, wie Christus seine Göttlichkeit im Fleisch verborgen habe.

Bild: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318, f. 19v – Physiologus Bernensis

Das Einhorn

Als Fabelwesen und Disney-Figur bekannt, kommt das Einhorn auch in der Bibel vor. Ähnlich wie Sirenen oder Kentauren findet man es nicht in der hebräischen Bibel, sondern nur in der griechischen Übersetzung, der Septuaginta. Sie war zur Zeit des Neuen Testaments unter Juden wie Christen verbreitet, und auf ihr basiert der Physiologus. Ursprünglich war das Einhorn, wie es in Psalm 22:21 vorkommt, ein mächtiges und gefährliches Tier. In der frühen mittelalterlichen Kunst war die Legende vom Einhorn, das sich nur von einer Jungfrau fangen lässt, weit verbreitet. Ihren Ursprung hat sie im Zentrum der christlichen Theologie, der Christologie: Das von der Jungfrau gefangene Einhorn ist ein Bild für die Fleischwerdung Jesu in der Jungfrau Maria. Weil es durch die Jungfrau bezwungen wird, wird es in der christologischen Deutung klein und niedlich.

Tiersymbolik und Naturkunde
Kein antiker Text ausser der Bibel wurde häufiger übersetzt als der Physiologus. Die Sammlung des Physiologus – wörtlich «Naturforscher» – ist anonym überliefert. Entstanden sein dürfte sie im 2. Jahrhundert in Alexandria in griechischer Sprache. In rund fünfzig Abschnitten behandelt der Text vor allem Tiere, aber auch Pflanzen und Mineralien. Die Theologen Rainer Hirsch-Luipold und Zbyněk Kindschi Garský von der Universität Bern haben untersucht, wie die Schrift alttestamentliche Tiersymbolik und antike Naturkunde verbindet, um eine christliche Gesamtdeutung der Natur zu entwerfen. Der Gedanke dahinter ist schöpfungstheologisch: Weil Christus als das göttliche Wort alle Dinge ins Dasein gerufen hat, ist er in allen Dingen der Schöpfung zu erkennen. Der Physiologus hat die christliche Ikonografie wesentlich geprägt.

Bild: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318, f. 19v – Physiologus Bernensis

Der Elefant

Aristoteles schreibt in seiner «Historia animalium», die Geschichte sei nicht wahr, wonach Elefanten im Stehen schliefen, weil sie sonst nicht wieder aufstehen könnten. Die Illustration im Berner Physiologus knüpft an Aristoteles an. Er zeigt, was man tatsächlich in er Natur beobachten kann: wie Elefanten einem gefallenen Artgenossen beim Aufstehen helfen. Die Naturbeobachtung verbindet der Physiologus allegorisch mit dem Alten Testament: Er schildert zuerst den Fall von Adam und Eva – des Elefantenpärchens –, die im Paradies lebten, bis sie von der verbotenen Frucht assen. Danach berichtet der Text von den erfolglosen Versuchen der andern Elefanten – Moses und der Propheten –, die gefallene Menschheit aufzurichten. Erst der letzte Elefant – Christus – kann dem gefallenen Elefanten – Adam – wieder aufhelfen. Im Verhalten der Elefanten spiegelt sich die christlich gedeutete Menschheitsgeschichte.

Die Christkatholische Kirche St. Peter und Paul, Bern (© 2011 Peter Feenstra)

Der Pelikan

Der Pelikan, der sich die Brust aufreisst und sein Blut auf seine Brut tropfen lässt – man findet das Bild in Kathedralen, Universitäten und Rathäusern, auf der Flagge des US-amerikanischen Bundesstaats Louisiana und im Wappen der brandenburgischen Stadt Luckenwalde. Ein Blick in den Physiologus erweist es als Bild der Menschheitsgeschichte von Schuld und Versöhnung: Gestört durch das Geschrei seiner Kinder, so erzählt der Physiologus, tötet der Vogel seine Kinder – wie Gott einst die Welt in der Sintflut vernichtete. Dann aber erbarmt er sich ihrer und erweckt sie zu neuem Leben, indem er sein Blut auf sie tropfen lässt. Die theologische Bedeutung des Bildes ist am Ende des Mittelalters in Vergessenheit geraten: Die offene Brust des Pelikans symbolisiert die offene Brust Christi am Kreuz, das Blut das Sakrament der Eucharistie, welches das ewige Leben stiftet.