Heiss und feucht: In dieser modernen Massenüberbauung in Singapur hat der Ventilator die traditionelle Durchlüftung ersetzt. | Bild: Katja Jug

22 Grad Celsius entsprechen einem angenehmen Raumklima. Allerdings frisst dieser globale Temperaturstandard im Zeitalter der Verstädterung irrwitzig viel Energie. Im heiss-feuchten Klima wird heute massiv gekühlt und in den kalten Jahreszeiten ordentlich geheizt. Der Zürcher Architekt Sascha Roesler schüttelt darüber den Kopf: «Wir müssen ein wichtiges architektonisches Erbe des 20. Jahrhunderts radikal hinterfragen – nämlich die Vorstellung, dass bei einem Gebäude das Innere thermisch um jeden Preis scharf vom Aussen getrennt werden muss.» Damit meint Roesler, zurzeit SNF-Förderprofessor für Architektur und Urbanismus an der Università della Svizzera Italiana in Mendrisio, insbesondere eine Bauweise, die mit der Umwelt im Austausch steht. Denn: «In allen Jahrhunderten vorher waren die Übergänge fliessend.»

Mensch als «geologischer Akteur»

Bislang hat sich die Forschung vor allem mit dem einzelnen Gebäude beschäftigt. «Die weltweit voranschreitende Verstädterung verlangt aber dringend den Blick auf grosse, urbane Konstellationen und ihre Mikroklimata. Denn diese sind in den Städten menschengemacht und damit immer auch Folge der Architektur», sagt Roesler. Er begreift das Klimatisieren als kulturelle Praxis und untersucht, welche passiven Klimatisierungsformen sich in den drei komplexen Megastädten Kairo, Santiago de Chile und Chongqing erhalten haben. Daraus will er ableiten, welche thermischen Konzepte in Zukunft architektonisch anzustreben sind. Der Architekt beruft sich dabei auf den indischen Historiker Dipesh Chakrabarty und dessen Idee, dass die Geschichte des Klimas nicht ohne den Menschen als «geologischen Akteur» geschrieben werden könne. Chakrabarty, führender Theoretiker des Postkolonialismus, plädiert dafür, dass sich auch die Kultur- und Geisteswissenschaften mit dem Klimawandel beschäftigen müssen.

Mit den Auswirkungen des Klimas auf die Architektur und das Wohlbefinden der Menschen in Grossstädten hat sich Roesler bereits am Future Cities Laboratory der ETH in Singapur beschäftigt. Hier hat er drei Jahre lang die Belüftungsformen im Massenwohnungsbau Südostasiens erforscht, und zwar anhand der Finanzmetropole Singapur und der indonesischen Plantagenstadt Medan. An beiden Orten ist es heiss und feucht. Monsun und der Regenzeitzyklus bestimmen das Klima. Und an beiden Orten gibt es eine lange Tradition, Gebäude natürlich zu belüften. Diese Tradition hatte eine typische Architektur zur Folge. Sie ist filigran, die Räume sind hoch, so dass die Luft steigen kann. Zudem garantiert das Baumaterial Holz die Luftdurchlässigkeit. Hinausragende Dächer schützen vor Regen und verschatten die Fassaden. Die Bewohner kennen die Kunst des Querlüftens. Allerdings stellt Roesler fest, dass diese natürliche Belüftungsform zusehends an Relevanz verliert. In Singapur wurde das Prinzip der natürlichen Belüftung zwar bis in die 1990er-Jahre auch im Massenwohnungsbau angewandt, aber auch hier hat die Klimaanlage im grossen Stil Einzug gehalten. Vor allem die jungen Leute schätzen den Komfort der Klimaanlage und haben laut Roesler vergessen, wie die natürlichen Belüftungsmethoden funktionieren. Denn diese verlangen, dass die Türen offen bleiben, was wiederum die Privatsphäre einschränkt.

Der Wunsch nach westlichen Standards hat das klimaangepasste Bauen verdrängt.

In der finanzschwachen Plantagenstadt Medan in Indonesien hat Roesler beobachtet, wie der Glaube an Modernität und der Wunsch nach westlichen Standards das klimaangepasste Bauen verdrängt. Mit fatalen Folgen für arme Bevölkerungsschichten, die sich keine Klimaanlage leisten können. Statt Wohnhäuser traditionell und luftdurchlässig zu bauen, wird mit Backstein gebaut. So entstehen geschlossene, niedrige Räume. «In diesen Häusern ist es so heiss und feucht, dass Menschen manchmal nachts nicht mehr in ihren Häusern schlafen, sondern im Freien», erzählt Roesler. Wer könne, löse das Problem mit der Anschaffung eines Ventilators oder einer Klimaanlage.

Roesler ist überzeugt, dass es heute darum gehen muss, aktive und passive, mechanische Klimaanlagen und natürliche Belüftungsformen neu in der Architektur zu kombinieren. «Dabei ist zu vermeiden, dass Bauten, die ursprünglich für natürliche Belüftung vorgesehen waren, nachträglich mit Klimaanlagen ausgestattet werden. Wir müssen das Thema Klimatisieren in der Architektur in Form von Mikroklima-Betrachtungen neu denken», fordert Roesler. Er ist überzeugt, dass die Interviews, Filme und Gebäudeanalysen seiner Doktoranden (siehe Kasten: «Drei Orte mit extremem Klima») einen wichtigen Beitrag dazu leisten werden, das Thema Klimatisieren neu anzupacken. Er weist auch darauf hin, dass die Erkenntnisse sich nicht eins zu eins auf die Schweizer Baukultur übertragen lassen werden. Es sind denn auch zwei andere Ziele, die er mit seiner Forschungsarbeit hauptsächlich verfolgt: erstens, dass «sich Architekten wieder intensiver entwerferisch mit klimatischen Fragen auseinandersetzen». Und zweitens, dass in der Architektur ein grösseres Handlungsfeld entsteht, «quasi eine grössere Klaviatur an Möglichkeiten, mit architektonischen Mitteln auf klimatische Verhältnisse zu reagieren».

Drei Orte mit extremem Klima
Junge Forschende der Università della Svizzera Italiana untersuchen im Auftrag von Sascha Roesler, wie das Thema Klimatisieren neu angepackt werden kann. Er hat sie dazu an drei Orte mit herausforderndem Klima geschickt:

  • In der rasant wachsenden chinesischen 32-Millionen-Stadt Chongqing werden die Winter immer kälter, aber die Wohnhäuser verfügen nicht über Isolation und Zentralheizung. Hier untersucht Madlen Kobi, welche thermischen Strategien die Bewohner entwickeln.
  • In Santiago de Chile, wo die Bewohner ihre Wohnungen meistens besitzen, will Lionel Epiney herausfinden, wie globale thermische Normen den Wohnungsbau beeinflussen: zum Beispiel das britische Label BREEAM, ein Bewertungssystem für ökologische und soziokulturelle Nachhaltigkeit von Gebäuden.
  • In Kairo, der ältesten Grossstadt schlechthin, beschäftigt sich Dalila Ghodbane mit der Frage, wie ärmere Bevölkerungsschichten in ihrem Bedürfnis nach klimatisch angenehmen Räumen das bauliche Erbe verändern.

Karin Salm ist freie Kulturjournalistin in Winterthur.