Unüberprüfbare Behauptungen und Manipulation sind für eine Demokratie ähnlich gefährlich wie ein Hochwasser für die Stadt. Das macht nicht nur Helvetia am Rhein in Basel nachdenklich. Bild: Keystone/Branko de Lang

2017 ist in Europa ein «Super-Wahljahr». In den beiden EU-Grossmächten Frankreich und Deutschland sowie in weiteren Staaten wird gewählt. Doch dieses Mal ist alles etwas anders als sonst. Seit Donald Trumps Wahlsieg geht ein Gespenst um in den westlichen Demokratien: der digitale Populismus. Seither wird kontrovers diskutiert, ob zwischen dem Erfolg der Populisten und ihren Kampagnen in den sozialen Medien ein Zusammenhang besteht.

Aus der Forschung kommen dazu vorsichtige Töne: Thomas Häussler vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern warnt davor, Facebook und andere soziale Medien für die Erfolge der Populisten verantwortlich zu machen. «Natürlich bedienen Populisten, hierzulande vorab die SVP, die sozialen Medien gekonnt», sagt Häussler, der zu politischer Kommunikation und Online-Mobilisierung forscht: «Noch ist es für sie aber nur ein weiterer Kommunikationskanal.»

Klassische Medien haben im politischen Meinungsbildungsprozess noch immer mehr Einfluss, sagt Häussler. In der Schweiz sind dies vor allem Zeitungen, andernorts das Fernsehen. Wenn man Facebook morgen «den Stecker ziehen würde», würde sich die politische Landschaft also nicht automatisch fundamental ändern, erklärt der Medienwissenschaftler; die bereits bestehende politische Polarisierung würde nicht über Nacht verschwinden.

Der direkte Draht zum Volk

Grundsätzlich sind Online-Plattformen und Populismus tatsächlich eine ideale Kombination: «Populisten suchen den direkten Draht zum Volk», erklärt Sven Engesser vom Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich (UZH). Er untersucht im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Democracy» Populismus und Massenmedien.

Die Rolle der sozialen Medien für den Aufstieg populistischer Bewegungen sei bislang erstaunlich wenig untersucht worden, sagt Engesser. Die Erforschung des digitalen Populismus wird dadurch erschwert, dass eine allgemein anerkannte Populismus-Definition fehlt. Das liegt auch an der Heterogenität der als populistisch bezeichneten Parteien und Bewegungen.

Online spiegelt «Offline-Populismus»

Engesser und weitere Forschende der UZH haben sich mit den Inhalten befasst, die Populisten aus der Schweiz, Österreich, Italien und Grossbritannien im Internet verbreiten. Gemein sei ihnen, sich als «wahre» Vertreter eines idealisierten Volks zu sehen, das im Dauerkonflikt mit vermeintlich volksfernen Eliten liegt. Inhaltlich spiegelt der digitale weitgehend den «Offline»-Populismus: Während linke Populisten tendenziell die ökonomischen Eliten angreifen, also Grosskonzerne und Banken, beziehen Rechte in Tweets, Posts und Online-Artikeln gegen politische Eliten und Migranten Stellung. Vor allem die Rechte kritisiert zudem die traditionellen Massenmedien.

«In extremis höhlt diese Art zu denken die Demokratie aus.»Thomas Häussler

Thomas Häussler ortet in dieser Ablehnung der Massenmedien ein wichtiges Merkmal des Populismus im Internet. Sie zeige sich besonders prononciert in der Debatte um die «Lügenpresse» in Deutschland: «Historisch war das öffentliche Ansehen von Journalisten nie besonders gross. In den letzten Jahren ist es noch weiter gesunken.»

Bauchgefühle ersetzen Fakten

Die Medienkritik habe nun eine in Europa lange nicht mehr gekannte, fundamentale Qualität erreicht. Diesen Vertrauensverlust machen sich Populisten zunutze. Häussler: «Sie werfen den traditionellen Medien vor, Teil der Eliten zu sein, die sich gegen das Volk verschworen haben, um dieses bewusst zu manipulieren.» Dieser Vorwurf steht im diametralen Gegensatz zu den in Journalisten-Codices propagierten Werten wie Unabhängigkeit und der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Nicht von ungefähr fordern viele populistische Parteien – hier in der Schweiz an vorderster Front die SVP –, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten als vermeintliche Bannerträger der Elite zu verkleinern oder gleich ganz abzuschaffen.

Die Anti-Eliten-Haltung führt jedoch gerade online erst recht dazu, dass sich journalistische Standards zusehends auflösen. Plötzlich geniessen zweifelhafte Formate wie das schweizerische Verschwörungstheoretiker-Portal «Alles Schall und Rauch» den gleichen publizistischen Stellenwert wie eine Neue Zürcher Zeitung. Das Bauchgefühl und der «gesunde Menschenverstand» zählen mehr als Expertise und überprüfbare Fakten. Es fällt daher leicht, sogar falsche Nachrichten – Fake News – zu verbreiten: frei erfundene Online-Beiträge, die in Stil und Layout Texten traditioneller Massenmedien nachempfunden sind. Dahinter vermuten Engesser und Häussler eine bewusste politische Strategie. Verunsicherte Menschen suchen eher Halt bei charismatischen Führungspersonen und einfachen Weltbildern. Und genau dies bieten Populisten an.

Was ist überhaupt noch wahr?

Die Erosion journalistischer Standards kann sich längerfristig negativ auf politische Prozesse auswirken. Unter diesen Umständen können Medien ihre Rolle als vierte Gewalt, ihre Kritik- und Kontrollfunktion, nicht mehr wahrnehmen: Wenn alles relativ ist, wird es immer schwieriger, sich eine faktenbasierte Meinung zu bilden und über Sachpolitik zu debattieren. «Man bleibt in der Meta-Diskussion stecken, ob die von Medien und Experten präsentierten Grundlagen überhaupt wahr sind, ja, ob überhaupt etwas von dem wahr ist, was die Medien berichten», so Häussler. «In extremis höhlt diese Art zu denken die Demokratie aus.»

Sogenannte Echokammern oder Filterblasen können diese Relativierung des Faktischen zusätzlich fördern. Die beiden häufig zitierten Begriffe beschreiben die Tendenz, sich im Internet mit ähnlich eingestellten Menschen zu umgeben und gegenseitig in seinen Einstellungen zu bestärken. Neu ist dieses Phänomen nicht, wenn man an die hierzulande bis in die 1960er dominierende Parteipresse denkt, wie Thomas Häussler sagt: «Um aber zu wissen, dass es andere Meinungen gab als die im Parteiblatt vertretene, musste man damals am Kiosk nur einen Schritt zurücktreten, und schon hatte man die Zeitungen anderer Parteien im Blick.»

Ein solches Zurücktreten, eine neutrale Vogelperspektive also, sei im Internet nicht mehr möglich, weil die Nutzerinnen und Nutzer dieses kommunikative Geflecht mit jedem Klick beständig verändern. Algorithmen sorgen aufgrund dieser Aktivitäten dafür, dass die User vor allem Beiträge sehen, die ihrem vermeintlichen Weltbild entsprechen. Und das wird von Mikro-Marketing-Firmen, die sich auf individualisierte Internet-Werbung spezialisiert haben, zusätzlich verstärkt.

Wenn das Internet «überschwappt»

Bisher gibt es keine empirischen Belege dafür, dass Filterblasen im Internet den Populisten zu Wahlsiegen verholfen hätten. Sowohl Häussler als auch Sven Engesser gehen von einem sogenannten Spill-over-Effekt aus: Wie Durchlauferhitzer verstärken traditionelle Medien mit ihrer Berichterstattung die Wirkung von Tweets, Blog- oder Facebook-Beiträgen weit über die sozialen Medien hinaus.

Verunsicherte Menschen suchen eher Halt bei charismatischen Führungspersonen und einfachen Weltbildern. Und genau dies bieten Populisten an.

Denn im Kampf um Reichweite und damit um Werbeeinnahmen, um zu überleben, orientieren sich die klassischen Medien zusehends an den sozialen Medien: «Drama, Emotionen, klare Botschaften – all das, was Populisten in Tweets und Facebook-Posts bieten, sorgt dafür, dass mehr Leute zum Beispiel einen Online-Zeitungsartikel lesen», sagt Engesser. Diese Aussagen halten zwar dem Faktencheck oft nicht stand. Sind sie aber einmal verbreitet, ist es schwer, sie zu widerlegen. Obwohl also Populisten und die vermeintlich lügenden Massenmedien über Kreuz liegen, profitieren sie laut Engesser paradoxerweise voneinander: Populisten sorgen mit ihren Tiraden für Klicks, die Massenmedien verbreiten dafür deren Botschaften weiter.

Virulent ist das Problem gerade in politisch stark polarisierten Ländern, in denen vergleichsweise staatstragende – in den Augen von Populisten somit «eliten-nahe» – Medien nicht moderierend wirken. Ein Paradebeispiel sind die USA mit ihren sehr schwachen öffentlich-rechtlichen Sendern: Die US-Massenmedien hätten im Fall der Präsidentschaftswahlen mit ihrer Empörungsbewirtschaftung schlicht versagt, fasst Thomas Häussler zusammen: «Indem sie auf der Suche nach Klicks und Werbung jeden haarsträubenden Tweet Donald Trumps aufgenommen und verbreitet haben, haben sie letztlich auch seine Politik befördert.»

Martin Zimmermann ist freier Journalist in Bern.

S. Engesser et al.: Populism and social media: how politicians spread a fragmented ideology. Information, Communication and Society (2016)