Junge Meinung
«Die Bevölkerungen waren nicht verfeindet»
Das Fach Osteuropäische Geschichte war laut Schweizer Historiker Fabian Baumann schon immer stark von politischen Entwicklungen abhängig. Im Interview erklärt er, wie der Krieg zwischen Russland und der Ukraine seine Forschungsarbeit beeinflusst.

Fabian Baumann forscht zu Nationalismus und Imperium in Russland und der Ukraine. | Foto: Katya Moskalyuk
Fabian Baumann, seit Kurzem ist das Interesse an Ihrer Arbeit als Osteuropahistoriker gross. Wonach wird gefragt?
Am häufigsten werden Einschätzungen zur aktuellen Situation in der Ukraine gewünscht. Ich werde zudem oft gefragt, ob ich das allgemeine mediale Bild des Krieges für fair halte.
Was antworten Sie?
Im grossen Ganzen wird in den Schweizer Medien relativ fair berichtet. Gewisse Nuancen zum historischen Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine könnten aber sicher verbessert werden.
Zum Beispiel?
Eine unabhängige Ukraine ist für den russischen Staat schon lange ein Schreckgespenst. Er hat mehrmals mit Grausamkeit versucht, nationale Bewegungen zu unterdrücken. Etwa im 19. Jahrhundert, als er die öffentliche Verwendung der ukrainischen Sprache praktisch verbot. Oder im 20. Jahrhundert, als die Sowjetunion mit grosser Gewalt gegen die Bauern vorging. Die Bevölkerungen waren trotzdem nicht verfeindet. Im Gegenteil: Es gab immer rege Kontakte, sehr viele durchmischte Ehen.
Die Relevanz Ihrer Disziplin ist nun gewachsen.
Ja. Es muss leider meistens etwas sehr Schlimmes passieren, damit die Gesellschaft mehr historisches Grundwissen dazu möchte. An den Universitäten merkt man auch, dass bei den Studierenden das Interesse an ukrainischer Geschichte deutlich gewachsen ist.
Manche fordern jetzt die postkoloniale Wende in Ihrem Fach: Was hiesse das?
Zum Beispiel, dass wir uns nicht auf die russische Sprache verlassen, sondern sicher eine zweite regionale Sprache lernen, sei das Ukrainisch, Georgisch oder Usbekisch. Auch die russischen Staatsarchive sollten nicht alleinige Quellen sein. Die Geschichtsschreibung war in den vergangenen Jahren sehr kritisch gegenüber nationalistischen Mythen, weniger gegenüber den imperialen.
Das bedeutet?
Man hat sich eher für Leute interessiert, die sich dem sowjetischen Projekt angeschlossen haben, und weniger für den nationalistischen Widerstand. Dabei war die Sowjetunion gerade an der Peripherie eine gewalttätige, imperiale Herrschaft, etwa in Tschetschenien. Man darf zudem nicht aus den Augen verlieren, dass sie viele Leute gut fanden.
Hat die russische Invasion zu Zerwürfnissen unter Kollegen geführt?
Es gibt Konfliktpotenzial, aber nicht mit der gleichen spaltenden Energie wie etwa die Situation in Israel und Gaza in der Nahostwissenschaft. Unter den westlichen Osteuropahistorikern vertreten nur sehr wenige aktiv die russische Position in dem Krieg. Aber wenn es um die Umsetzung der postkolonialen Wende geht oder wie sehr man Russland im Fach dezentrieren soll, gibt es schon Meinungsverschiedenheiten.
