Fokus: Forschung aus Betroffenheit
Glaubwürdigkeit verlangt einen Hochseilakt
Die Feministinnen haben persönliche Betroffenheit in der Forschung salonfähig gemacht. Heute ist diese akzepziert, wenn sie transparent gemacht und analysiert wird. Vom Für und Wider dieser Herangehensweise.

Selbstanalyse – oder Autoethnografie – hilft nicht nur bei offensichtlich betroffenen Forschenden, den eigenen Einfluss auf die Resultate zu erkennen. | Foto: Angelika Annen, Styling / Hair & Make-up: Amanda Brooke, Model: Iva von Option Model Agency
Seit einigen Jahren ist persönliche Betroffenheit in der Forschung akzeptiert. Brigitte Boenisch-Brednich, Anthropologin und Spezialistin für ethnografische Forschungsmethoden an der neuseeländischen Victoria University of Wellington, spricht von der sogenannten subjektiven Wende: «Begonnen hat das mit dem Feminismus in den 1970erund 1980er-Jahren, als das Persönliche politisch wurde und man anfing, die Erfahrungen ganz normaler Menschen ernst zu nehmen», sagt sie. «Das hat dazu geführt, dass persönlich motivierte Forschung auch in der Wissenschaft akzeptiert wurde.» In den Sozial- und Geisteswissenschaften und in der Medizin finden sich viele Forschende, die selbst von ihrer Forschung betroffen sind.
Zugang zu intimem Wissen
«Die eigene Betroffenheit kann Erkenntnisgewinn bringen, sofern sie erkannt und analysiert wird», sagt Boenisch-Brednich. In ihrer Forschungsgruppe arbeiten mehrere Studierende und Doktorierende an dezidiert persönlich motivierten Projekten. Zum Beispiel Naz Karim, eine Forscherin aus Afghanistan, die durch die Taliban selbst Gewalt erfahren hat und nun, Jahre später, Gewalt an Frauen durch die Taliban untersucht. Unter anderem führte sie dazu in Afghanistan Befragungen mit betroffenen Frauen durch. Dabei war es für Karim natürlicherweise leichter, den Zugang zu den Frauen zu finden und ihr Vertrauen zu gewinnen, als für jemand anderen – am wenigsten für einen weissen Mann, mit dem wohl viele der Frauen gar nicht gesprochen hätten oder nicht hätten sprechen dürfen.
Als Teil der Forschung analysiert Karim auch ihre eigene Reaktion. Zum Beispiel kamen ihre schlimmen Albträume aufgrund von dem, was sie selbst erlebt hat, zurück. Interessanterweise hat die eigene Betroffenheit Karim aber auch geholfen, gemeinsame kulturelle Elemente zu erkennen. So beschreiben viele der betroffenen Frauen ihre Angstzustände als einen Geist, der sie befällt und sich ihnen auf die Brust setzt.
In einem weiteren Projekt in Boenisch-Brednichs Forschungsgruppe wird das Persönliche noch direkter genutzt. Darin analysiert eine an der Essstörung Bulimie leidende Forscherin in einer intimen Selbstbetrachtung die Strategien, die sie verwendet, um ihre Erkrankung zu verschleiern. Etwa wie sie sich aufs Gramm genau auf Arzttermine vorbereitet, welche Lügen sie wem erzählt und welche Drogen und Medikamente sie nimmt, um überhaupt durchzuhalten. «So ergänzt sie den bisherigen Forschungsstand mit einer Toolbox an Tricks und Manipulationen, die sie und andere bulimische Frauen gegenüber sich selbst und ihrem Umfeld zu nutzen wissen», sagt Boenisch-Brednich. Das ist für Ärztinnen und Therapeuten äusserst nützlich und wäre ohne die Eigenanalyse nicht zustande gekommen.
Die Methode, die die Forschenden nutzen, um ihre eigenen Perspektiven und Erlebnisse zu beschreiben und zu analysieren, heisst Autoethnografie. Sie wurde speziell für Themen entwickelt, zu denen die Forschenden eine direkte Beziehung haben. Autoethnografische Texte lesen sich nicht wie klassische wissenschaftliche Publikationen, sondern sind narrativ und in der Ich-Form geschrieben. Sind die Arbeiten gut gemacht, verbinden sie die persönlichen Erfahrungen mit dem kulturellen, sozialen oder politischen Kontext, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Alle sollten sich reflektieren
Auch der Kriminologe Ahmed Ajil nutzt Autoethnografie jeweils zusätzlich zu seinen quantitativen und qualitativen Untersuchungen. Ajil forscht an den Universitäten Luzern und Lausanne unter anderem zu Terrorismus – oder politisch-ideologisch motivierter Gewalt, wie er selbst differenzierter sagt. Ihn interessiert, wie Mitglieder terroristischer Organisationen mobilisiert werden. Dazu hat er Interviews mit Männern geführt, die in der Schweiz wegen terroristischer Straftaten verurteilt wurden, sowie mit Mitgliedern gewaltbereiter Organisationen im Libanon. Wie Ajils Name schon verrät, hat er einen muslimischen Hintergrund, und Arabisch ist seine Muttersprache. Mit Autoethnografie und dem Vergleich mit Forschungskolleginnen mit meist christlich-westlicher Herkunft hat er analysiert, welchen Einfluss seine sprachliche und kulturelle Nähe zu den Interviewten auf seine Forschung hat.
Er kam zum Schluss: Diese Nähe nützt ihm zum Teil, um Vertrauen aufzubauen und die Nuancen von Aussagen besser zu verstehen. Manchmal war seine Herkunft sogar entscheidend dafür, dass er ein Interview führen konnte. Ajil erkannte aber auch, dass sein kultureller Hintergrund schaden kann, etwa wenn sein Gegenüber annimmt, dass er gewisse Dinge einfach so versteht, und diese dann ungesagt bleiben. «Wichtig ist, dass ich diese Blind Spots erkenne und darauf reagiere, indem ich expliziter nachfrage», sagt Ajil. Im Übrigen würde er sich wünschen, dass mehr seiner Forschungskollegen ihre Rolle und ihren vielleicht unbeabsichtigten Einfluss auf das Forschungsobjekt systematisch reflektieren. Das machen längst nicht alle. «Geschieht es nicht, schadet das der Forschungsarbeit.»
Die Forschenden sprechen beim Aufschlüsseln der eigenen Rolle von ihrer Positionalität. Beispielsweise forschte die Anthropologin Boenisch-Brednich zu akademischer Migration und merkte während der Arbeit, dass sie beim Forschungsdesign zu stark von ihrer eigenen Perspektive ausgegangen war. So ist sie erst als gut situierte Professorin emigriert und musste nicht, wie viele Postdocs von einer befristeten Stelle zur anderen die Länder wechseln. Zudem besitzt sie als Deutsche einen Pass, der das Reisen leicht macht. Anders war das für kasachische oder weissrussische Akademikerinnen, die sie befragt hat. «An die Probleme, die sich dadurch für die Karriere stellen, habe ich zunächst gar nicht gedacht», sagt die Forscherin. Daraufhin hat sie ihre Positionalität kritisch reflektiert und den Fragenkatalog ihres Projekts entsprechend angepasst und verbreitert.
Vor allem in den Sozialwissenschaften sei die Sensibilisierung darauf, die eigene Rolle zu reflektieren, weit entwickelt, weil hier viele Forschungsthemen eine Verbindung zu Machtverhältnissen haben, sagt Wiebke Wiesigel, Anthropologin an der Universität Neuenburg und Co-Präsidentin der Kommission für Ethik und Deontologie der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft. «Das Ziel der Sozialwissenschaften ist es ja gerade, die Gesellschaft kritisch anzuschauen, um anders zu deuten, was als normal bezeichnet wird.» Diese Erkenntnisse müssen die Forschenden dann auch seriös vertreten können und darum ihre Beziehung zum Forschungsthema reflektieren und transparent machen.
Vertrauenswürdig, wenn einverstanden
So weit, so gut, möchte man meinen. Nur: Diese Eigenreflexion führt nicht unbedingt dazu, dass die Forschung für die Öffentlichkeit glaubhaft ist. Was Studien stattdessen gezeigt haben: Sind Forschende betroffen, kann ihnen das positiv oder negativ ausgelegt werden – je nachdem, welche Meinung schon vorher beim Publikum vorherrscht. So zeigte eine Untersuchung von 2021 am Beispiel von Arbeiten zu LGBTQ-Themen und veganer Ernährung, dass Laien persönlich betroffene Forschende als vertrauenswürdiger und deren Resultate als glaubwürdiger wahrnahmen – sofern sie dem Forschungsthema gegenüber schon positiv eingestellt waren. Umgekehrt aber waren Personen, die von vornherein beispielsweise vegane Ernährung kritisch sahen, nochmals kritischer.
«So sind wir alle gestrickt, wir möchten unser Weltbild bestätigt wissen», sagt Marlene Altenmüller. Sie ist Erstautorin der Studie und forscht als Professorin am Leibniz-Institut für Psychologie in Trier an der Akzeptanz von Wissenschaft in der Öffentlichkeit. «So wertet das Publikum Forschungsergebnisse auf oder ab, je nachdem, wie diese zur eigenen Sicht passen. Und das stärker, wenn die Forschenden persönlich betroffen sind.»
Was hinter dieser Denkweise steckt, untersuchte eine amerikanische Studie genauer. Die darin befragten Personen schrieben betroffenen Forschenden einerseits mehr Expertise zu, andererseits auch mehr Eigeninteresse. Die erste Zuschreibung macht die Arbeiten vertrauenswürdiger und legitimer, die zweite erhöht den Verdacht auf Voreingenommenheit. Je nach eigener Sicht ist dann die eine oder die andere dieser Zuschreibungen dominant.
Ähnlich reagiert die Öffentlichkeit übrigens, wenn Wissenschaft politisch wird. Das kommt häufig vor, etwa in der Klimaforschung, bei der Gleichstellung, der Bildung oder bei den Covid-Massnahmen. Hier zeigte eine Studie von Altenmüller, dass sich die Öffentlichkeit stark von der erwarteten Haltung der Forschenden leiten lässt: Werden sie als linksliberal wahrgenommen, sind rechtskonservative Menschen skeptischer. Und umgekehrt sind Linksliberale skeptischer, wenn sie bei den Forschenden eine konservative Einstellung vermuten.
Politisch und reproduzierbar geht zusammen
Doch was heisst das nun? Was sollen Forschende tun, um glaubwürdig zu sein? «Darauf gibt es keine einfache Antwort», sagt Altenmüller. Umfragen zeigten immer wieder eine interessante Ambivalenz: Die Leute schätzen häufig Persönliches von den Forschenden und möchten auch, dass sie sich zu politischen Fragen äussern – dass sie etwa widersprechen, wenn Evidenz falsch dargestellt wird. Gleichzeitig soll Wissenschaft nicht Politik machen, beispielsweise nicht Partei für bestimmte politische Massnahmen ergreifen – ein schmaler Grat.
Doch unabhängig von der öffentlichen Meinung: Wie vertrauenswürdig Arbeiten von persönlich oder politisch involvierten Forschenden tatsächlich sind, dazu gibt es bisher kaum Studien. «Diese Art der Forschung über Forschung ist extrem aufwendig und steht erst am Anfang, bekommt nun aber immer mehr Zug», sagt Altenmüller. Zumindest ein Resultat in diese Richtung lässt sich vermelden. Ein US-amerikanisches Forschungsteam schaute sich fast 200 psychologische Studien an, deren Ergebnisse eine politische Wertung enthalten. Und untersuchte, ob diese in späteren Untersuchungen weniger häufig bestätigt wurden als andere. Ergebnis: Nein.