Klassische Artikel, Reportagen, Medienmitteilungen, Leaks und Tipps: Mit ihnen wird die Grundlage für investigativen Journalismus erst gelegt.| Bild: Collage Horizonte

In der öffentlichen Wahrnehmung geniesst der investigative Journalismus ein besonders hohes Ansehen. «Die akademische Forschung zementiert diese Vorstellung, indem sie sich auf Artikel mit umfangreichen Recherchen und Auszeichnungen konzentriert. Wir entkräften diesen Mythos, indem wir das Genre neu definieren und aufzeigen, dass Investigationen weitgehend auf den regulären Journalismus angewiesen sind», erklärt Lena Würgler, Erstautorin einer Studie über Investigativjournalismus in der Romandie.

«Investigative Medienschaffende werten den regulären Journalismus in der Theorie zwar ab, bei eigenen konkreten Recherchen schätzen sie ihn aber.»Lena Würgler

Die Kommunikationswissenschaftlerin der Universität Neuenburg hat den Investigativjournalismus als Ökosystem untersucht. Die Grundlage bildeten 186 Reportagen, die von Januar bis September 2018 in sechs Westschweizer Zeitungen erschienen sind, und 23 Interviews mit Investigativjournalisten. Davon ausgehend rekonstruierte sie die sogenannte Nahrungskette dieses Genres, indem sie dem Ursprung der Berichte nachging: Medienmitteilungen, Reportagen, Leaks, Tipps und so weiter.

Dann teilte sie die investigativen Artikel in zwei Kategorien ein: reaktiv und proaktiv. Das Ergebnis: Der Westschweizer Investigativjournalismus ist überwiegend reaktiv. Meistens gibt es keine eigene Agenda, sondern bereits bekannte Fakten werden genauer untersucht. Dies untermauern auch die Interviews mit den investigativen Medienschaffenden.

«So konzentriert sich die gesamte Energie auf bestimmte Fälle, womit ein Teil der Gesellschaft der Beobachtung entgeht.»Lena Würgler

«Sie werten den regulären Journalismus zwar ab, wenn sie Investigation theoretisch definieren, bei eigenen konkreten Recherchen schätzen sie ihn aber als Ausgangspunkt und betrachten ihn als fruchtbare Quelle.»

Die Studie zeigt auch eine Rückkopplungsschleife: Häufig löst eine investigative Untersuchung weitere Untersuchungen aus, die wiederum das Ökosystem Investigativjournalismus nähren. Eine Schleife mit Vor- und Nachteilen: «Je stärker das Ökosystem wird, desto grösser ist die Legitimität des gesamten Berufsstandes», sagt Würgler. «Jedoch konzentriert sich so die gesamte Energie auf bestimmte Fälle, womit ein Teil der Gesellschaft der Beobachtung entgeht.»

L. Würgler et al: How do investigative journalists initiate their stories? Exploring the investigative ecosystem of Switzerland. Taylor and Francis Online (2022)