Die Handlungen der Einzelnen haben Auswirkungen auf die Gesundheit anderer. Deshalb betont Matthias Egger die ethische Verantwortung für die öffentliche Gesundheit. | Foto: Nicolas Brodard

Im Gegensatz zur Medizinethik, die auf den hippokratischen Eid und den Nürnberger Kodex zurückgeht, ist die Ethik der öffentlichen Gesundheit eine relativ junge Disziplin. Die «Principles of the Ethical Practice of Public Health» wurden erst 2002 von der American Public Health Association veröffentlicht. Während in der Medizinethik der Fokus auf die Beziehung zwischen Ärztin und Patientin gerichtet ist, beschäftigt sich die sogenannte Public-Health- Ethik mit der Beziehung zwischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite.

Die Medizinethik betont die Autonomie der Einzelnen und fordert etwa, dass vor einem medizinischen Eingriff oder vor der Teilnahme an einer Studie gut informiert und das Einverständnis eingeholt wird. Sie ist der Maxime verpflichtet, den Leuten Gutes zu tun und Leiden zu verhindern. In der Public-Health-Ethik wird der Grundsatz der Autonomie durch das Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit ergänzt: Die Handlungen der Einzelnen haben Auswirkungen auf andere. Durch die Impfung des Spitalpersonals gegen die Grippe (Influenza) werden Hochrisikopatientinnen geschützt. Genau das empfiehlt die Swiss National Covid-19 Science Taskforce, wie immer aufgrund wissenschaftlicher Evidenz.

«Meinungen und Annahmen sollten beim Abwägen der Vor- und Nachteile von Massnahmen nicht entscheidend sein, sondern wissenschaftliche Daten.»Matthias Egger

Ein Schlüsselwert der Public-Health-Ethik ist denn auch die evidenzbasierte Untermauerung der Empfehlungen. Meinungen und Annahmen sollten beim Abwägen der Vor- und Nachteile von Massnahmen nicht entscheidend sein, sondern wissenschaftliche Daten. Mit anderen Worten: Die Wissenschaft bei Entscheidungen über die öffentliche Gesundheit einzubeziehen, ist ein ethischer Imperativ – gerade in einer Krise. In der Schweiz wurde die wissenschaftliche Gemeinschaft erst spät in die Politik zur Pandemie involviert. Es ist sehr wichtig, dass ihre Rolle und Verantwortung im Hinblick auf künftige Krisen geklärt wird.

Aus den Prinzipien von 2002 lassen sich zudem weitere Lehren ziehen. Dazu gehört der Grundsatz der Partizipation: Public-Health-Massnahmen sollten unter Einbezug der betroffenen Bevölkerung geplant und umgesetzt werden. Wie diese Partizipation in einer Gesundheitskrise wie der Covid-19-Pandemie ermöglicht werden könnte, ist eines der vielen wichtigen Themen, die dringend transdisziplinär erforscht werden müssen.