Studium der bildenden Künste und der Philosophie in Amsterdam, Promotion an der University of Plymouth (GB): Seit 2014 arbeitet Tine Melzer als Kunstdozentin an der Hochschule der Künste Bern. Foto: Mara Truog / 13 Photo

Tine Melzer, ist der Begriff «künstlerische Forschung» überhaupt sinnvoll?

Er ist reizvoll. Das Problem ist eher die Debatte darum. Der Begriff wurde durch Bewertungen, Erfahrungen und Denkbilder abgenützt, die sehr viele Missverständnisse produziert haben.

Welche denn?

Nach der Bologna-Reform wurde es wichtig, den Forschenden an Kunsthochschulen eine Art Nach-Master-Status geben zu können. Es ging zum Beispiel darum, welche formalen Bedingungen jemand zu erfüllen hat, um ein Doktorat in den Künsten zu erlangen. Einige glaubten, dass sich die künstlerische Arbeit an den universitären Kanon anpassen müsse. Es gibt sinnvolle Möglichkeiten, künstlerische Praxis und Recherche mit wissenschaftlichen Methoden zu verbinden. Aber das muss auf Augenhöhe passieren. Das kürzlich erschienene Manifest der Künstlerischen Forschung (S. Henke, D. Mersch et al.: Diaphanes 2020) klärt endlich einige der wichtigsten Missverständnisse.

Zum Beispiel?

Das Label kann missbraucht werden, um entweder eine Forschungsarbeit, die schlecht vermittelbar ist, durch eine künstlerische Geste aufzuwerten. Oder umgekehrt eine schlechte künstlerische Arbeit durch eine Art wissenschaftliches Gebaren. Das tut beiden nicht gut.

«Ich erwarte von künstlerischer Forschung eine lustvolle Nähe zu Versprachlichung.»

Was macht künstlerische Forschung?

Es gibt gewinnbringende Methoden in den Künsten, die in vielen wissenschaftlichen Disziplinen gut angewendet werden können, etwa, wenn mehrdeutige Aspekte genutzt und anschaulich gemacht werden. Ich persönlich erwarte von künstlerischer Forschung eine lustvolle Nähe zu Versprachlichung und Reflexion zwischen poetischen und theoretischen Verfahren.

Können Sie ein Projekt aus der eigenen Praxis beschreiben?

Ein Beispiel ist The Complete Dictionary von 2003, eine Enzyklopädie aller möglichen Wörter mit bis zu sechs Buchstaben. Es geht um die Frage: Wie gross ist das vollständige Wörterbuch? In der Philosophie könnte man diese in einem Essay abhandeln, doch die Kunst kann sie mit ganz anderen Mitteln bearbeiten, sozusagen physisch. Beim Dictionary sind das 26 Bände, von A bis Z. In meinem Verständnis, wie Sprache funktioniert, lassen sich bestimm- te Dinge eher sagen und andere eher zeigen.

Wie funktioniert das?

An Ausstellungen dürfen die Leute die Bände als Leseobjekte nutzen, sie anfassen, sich damit herumschlagen. Sie merken dann: Es stehen viel mehr Wörter darin, als in Gebrauch sind, nämlich alle möglichen aussprechbaren, nicht nur diejenigen einer einzigen Muttersprache. Wir alle können mit Wörtern, diesen Buchstabenreihen, irgendwie umgehen und haben dazu ein Verhältnis. Das Dictionary schliesst an diese alltägliche Erfahrung an. Was es zustande bringt, kann ein rein akademisches Werk nicht immer schaffen.