Der sehnsüchtige Klang des Alphorns und die Schweizer Berge – beide bilden Identität. Mit dem Jodel zusammen ergeben sie ein Trio der Nostalgie. | Bild: Keystone/Jean-Christophe Bott

Fahnenflucht, Suizid, tödliche Melancholie: Solches Schicksal ereilte manche Schweizer Söldner, wenn sie Kuhreihen hörten, die traditionellen Melklieder aus ihrer Heimat, und das Heimweh sie überfiel. Ob Legende oder Realität, solche Episoden kursierten in der wissenschaftlichen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie machten die Stücke aus den Alpen weltbekannt und die Schweiz in den romantischen Vorstellungen der Menschen zu einem Hort der Nostalgie.

Die Melodien wurden zum Inbegriff einer Identität, die in der Bergwelt verwurzelt ist. Und sie gelten heute als Matrix zweier Praktiken, die die alpenländischen Traditionen ins 20. und 21. Jahrhundert hineintrugen: jodeln und Alphorn spielen. Eine glaubwürdige Erzählung? «Das wäre zu einfach. Die Realität ist komplexer», sagt Raymond Ammann, Professor an der Hochschule für Musik Luzern. Er leitet ein Forschungsprojekt zur musikalischen Beziehung zwischen Alphorn und Jodel. Die Ergebnisse wurden vor Kurzem im Buch «Alpenstimmung» veröffentlicht.

Mysterium elfter Naturton

«Noch nie haben so viele Menschen diese Praktiken ausgeübt wie heute», erklärt der Forscher, der die Zahl der aktiven Alphornbläser und -bläserinnen auf über 3000 schätzt. Der 1910 gegründete Eidgenössische Jodlerverband zählt derzeit 20 000 Mitglieder. Eine beeindruckende Zahl, wenn man bedenkt, dass «Alphorn und Jodeln im 19. Jahrhundert fast verschwunden wären». Die aktuelle Erfolgswelle war der Auslöser für die Studie von Ammann: «Als Instrumentalist fragt man sich: Soll ich das Alphorn so spielen wie ein anderes Blasinstrument oder den Jodelgesang imitieren?»

Laut Charlotte Vignau, Musikethnologin und Autorin einer 2013 erschienenen transnationalen Studie zu Alphorn und Gesellschaft sowie externe Beraterin von Raymond Ammann, «wurde eine mögliche Beziehung zwischen Jodeln und Alphorn noch nie untersucht». Frühere Studien stützen sich zwar auf dieselben historischen Quellen, beschränkten sich aber auf jeweils eine der Praktiken. Zur Durchführung der Erhebung wurden neben den schriftlichen Dokumenten auch Tonaufnahmen analysiert und historische Alphörner in Schweizer Museen gespielt.

«Als Instrumentalist fragt man sich: Soll ich das Alphorn so spielen wie ein anderes Blasinstrument oder den Jodelgesang imitieren?»Raymond Ammann

Es galt herauszufinden, ob mit den antiken Alphörnern auch der «elfte Naturton » spielbar ist, eine Note, die sowohl für das Jodeln als auch für die neuere Alphornmelodik typisch ist. «Bisher wurde angenommen, dass die Instrumente aus dem 17. und 18. Jahrhundert zu kurz waren, um diese Note zu spielen, was die Hypothese einer ursprünglichen Verbindung mit dem Jodeln ausgeschlossen hätte. Doch in Wirklichkeit wurden die Alphörner in historischen Dokumenten vermutlich gekürzt, weil ihre Länge für die Bildkomposition problematisch war», vermutet Raymond Ammann.

Frei spielen und singen

Die Ergebnisse zeigen also komplexe Zusammenhänge. «Ja, die beiden Praktiken haben sich gegenseitig beeinflusst, aber nicht zu jeder Zeit, und es ist nicht klar, ob sie den Grundstein füreinander legten. Die von uns identifizierten Beziehungen betreffen insbesondere Komponisten, die sich im 19. und 20. Jahrhundert von Alphornmelodien inspirieren liessen, wenn sie Jodlerstücke schrieben», meint der Forscher. Die beiden Traditionen entwickelten sich nicht isoliert, sondern in einem soziokulturellen Zusammenspiel, bei dem auch individuelle Initiativen prägend wirkten.

Zu diesen Faktoren gehören etwa der Erfolg des «Tyrolerlieds» Ende des 19. Jahrhunderts und die Reaktion des Schweizer Jodels auf diesen ausländischen Einfluss: die Anpassung der Kuhreihen an den Stimmumfang des Klaviers, um die alpine Natur in bürgerlichen Salons zu zelebrieren, oder auch der Trend, diese Musik im Tourismus in Geld umzumünzen. Die Studie von Raymond Ammann wird vermutlich ebenfalls in die Melodie des Booms einstimmen – wenn es nach ihm geht, mit einer erlösenden Wirkung: «Alle sollen frei entscheiden, wie sie spielen und singen wollen.»