Einige seiner Freunde starben beim Aufstand in Syrien. Daraufhin wollte Politikwissenschaftler Jonathan Austin unbedingt verstehen, was in dem Land passierte und begann, sich mit politischer Gewalt zu befassen. | Bild: Valérie Chételat

Ein einfaches Heft, auf dem weissen Blatt ein senkrechter Pfeil. In der Mitte eine dicke waagrechte Linie: die Gewaltschwelle. Mit ein paar Bleistiftstrichen veranschaulicht Jonathan Austin den Kern seiner Arbeiten am Graduate Institute in Genf: die individuelle Dynamik der politischen Gewalt verstehen. Der Prozess bringt eine normale Person dazu, nach verschiedenen Vorstufen schliesslich die Grenze zur Folter zu überschreiten.

Es sei ein Weg, der nicht willentlich zurückgelegt werde, glaubt der junge Politiksoziologe englischer Herkunft, der in verschiedenen Ländern Europas aufwuchs und später Arabisch lernte. Der Nahe Osten zog ihn an, und er lebte dort zwischen 2007 und 2011, vor allem als freischaffender Fotograf. Die Region liess ihn nicht los, und er hat in mehreren Ländern gelebt: «In Syrien, im Libanon, in Palästina. Syrien war trotz des diktatorischen Regimes bis zur Revolution ein angenehmer, gastfreundlicher Ort mit herausragender Geschichte und reicher Küche, wo verschiedene Kulturen zusammenlebten und es einfach war, Freunde zu gewinnen. Ein echtes Paradies. » Doch innert kurzer Zeit verwandelte sich alles in einen Albtraum. «Einige meiner Freunde sind beim Aufstand gestorben. Ich wollte unbedingt verstehen, was da passierte», erklärt Austin. So war es nur logisch, dass er sich nach seiner Rückkehr nach Europa mit der Gewalt im Nahen Osten befasste.

Alltägliche Schläge

In seiner vor Kurzem abgeschlossenen Dissertation konzentrierte sich Austin auf Folter durch Angehörige staatlicher Instanzen wie Polizei oder Armee. Folter ist zwar im Allgemeinen gesetzlich verboten, wird aber dennoch häufig praktiziert. Der Forscher reiste erneut in den Nahen Osten und führte in Flüchtlingslagern Gespräche mit Menschen, die selbst gefoltert hatten. Er wollte verstehen, welche Mechanismen sie dazu gebracht hatten. Es war kein Problem, zu diesen Informationen zu kommen, denn in diesen Ländern gehört Gewalt zum Alltag und ist kein Tabu.

«Diese Menschen sind keine Monster. In den allermeisten Fällen wollen sie anderen nicht freiwillig Schmerz zufügen.»

Dem jungen Forscher wurde bewusst, dass die Menschen, die Gewalt ausüben, eigentlich gewöhnliche Leute sind. «Das sind keine professionellen Folterer. Sie sind keine Monster. In den allermeisten Fällen wollen sie anderen nicht freiwillig Schmerzen zufügen. Sie geraten durch gewisse Automatismen in diese Situation.» Wenn Gewalt an der Tagesordnung sei, etwa das Bestrafen von Kindern durch Schläge auf die Fusssohle – das sogenannte Falaka ist im Nahen Osten eine gängige Körperstrafe –, sei es nicht so schwierig, dies auch beim Verhör eines Verdächtigen zu tun. «In den USA dagegen wird Folter eher in Form von Sportritualen angewendet, wie etwa beim Football, wo man in den Gegner hineinrennt. Auch hier machen die Peinigenden etwas Bekanntes, und der spielerische Aspekt relativiert die Tat.» Auch der Gruppeneffekt spiele eine wichtige Rolle, ergänzt Austin: Es ist einfacher, jemanden mit anderen zusammen anzugreifen als alleine. In gewissen Fällen helfen auch Drogen und Alkohol, die Realität der Handlungen zu verwischen. Die Grenze zwischen Unschuld und Gewalt wird so leicht durchbrochen.

Die schrittweise Akzeptanz von Gewalt hat Jonathan Austin auch an sich selbst erlebt. «Als ich die Folterer interviewte, haben wir ganz nüchtern über die Misshandlungen gesprochen. Wir schauten Videos, während wir assen, ohne Emotionen und Reaktionen. Ich hatte keine Mühe, am Abend danach einzuschlafen – die Folter war zur Routine geworden. Es hat über ein Jahr gedauert, bis ich begriff: Ich hatte selbst damit begonnen, den Prozess zu durchlaufen!» Der Forscher erinnert sich, dass er damals viel mehr rauchte. Zweifellos eine Strategie, das doch vorhandene Unbehagen zu verdrängen. «Die Folterer rauchen enorm viel.» Inzwischen hat der Soziologe andere Strategien gefunden, um Abstand zu seinem Forschungsgegenstand zu gewinnen. Er arbeitet nur punktuell an diesem Thema und macht regelmässig Pausen. Andere Interessen wie die arabische Literatur bieten ihm eine willkommene Zuflucht.

«Wenn es an Lebensmitteln und Strom fehlt, wenn die Folterer im selben Raum schlafen wie die Gefangenen, dann steigt der Stresspegel und gleichzeitig das Risiko von Übergriffen.»

Politische Gewalt bleibt jedoch das wichtigste Forschungsgebiet von Jonathan Austin. Er leitet seit 2017 am Graduate Institute die Initiative für Gewaltprävention. In diesem Rahmen entwickelt er Instrumente, die dazu beitragen sollen, die Anwendung von Gewalt zu reduzieren. Helfen könnten eine bessere Infrastruktur, bessere physische Bedingungen, um unerwünschte Automatismen zu unterbrechen – ähnlich wie ein gutes Strassenkonzept den Verkehrsfluss fördert. «Wenn es an Lebensmitteln und Strom fehlt, wenn die Folterer im selben Raum schlafen wie die Gefangenen, dann steigt der Stresspegel und gleichzeitig das Risiko von Übergriffen», sagt der Forscher. Sehr nützlich findet er zudem Überwachungstools in der Art eines Flugschreibers. «Wenn wir wissen, dass wir überwacht werden, nehmen wir gegenüber unseren Handlungen eine andere Perspektive ein.»

Jonathan Austin lebt gern in Genf und schätzt an der Schweiz die Pünktlichkeit und Ruhe. Mit Blick auf den Brexit hat er seinem Gepäck den irischen Pass hinzugefügt, in seiner weiteren Karriere sollen ihm schliesslich keine Türen verschlossen bleiben. «Aber ich möchte in der Schweiz bleiben.» Dem Nahen Osten fühlt sich der Forscher noch immer sehr verbunden – Teppiche und andere Gegenstände in seinem Büro zeugen davon. Austin ist für diesen Teil der Welt trotz allem optimistisch. «Selbst wenn die Situation vor Ort derzeit schrecklich ist, sehe ich darin den Ausdruck eines Wunsches nach Veränderung. Ich habe grosse Hoffnungen für diese Völker.»

In den Nahen Osten verliebt
Jonathan Austin, geboren 1987 in England, absolvierte seine Schulzeit in verschiedenen Ländern Europas: Spanien, Frankreich und Italien – je nach Stelle seines Vaters, eines Raumfahrtingenieurs. Zwischen 2007 und 2011 lebte er im Nahen Osten, vor allem in Syrien, Libanon und Palästina. Gleichzeitig arbeitete er an seinem Bachelor in arabischer Sprache an der Universität St. Andrews in Schottland. 2011 kam er für den Master in Politikwissenschaften ans Graduate Institute in Genf, wo er später zum Thema politische Gewalt doktorierte. Seit 2017 leitet er dort die Initiative für Gewaltprävention (VIPRE), deren Ziel es ist, neue Strategien zur Gewalteindämmung zu finden.