Während der Dissertation befinden sich Forschende häufig in einem doppelten Abhängigkeitsverhältnis, sagt Psychologe Sandro Vicini. Bild: Valérie Chételat

Während der Dissertation befinden sich Forschende häufig in einem doppelten Abhängigkeitsverhältnis, sagt Psychologe Sandro Vicini. | Bild: Valérie Chételat

Sandro Vicini, warum kommen Studierende zu Ihnen in die Beratung?

Ihre Fragen drehen sich unter anderem um Lernstrategien, Prüfungsangst, Stress, Referatskompetenz, wissenschaftliches Schreiben und Laufbahnberatung. Es können ausserdem soziale Probleme dazu kommen wie etwa Krach in der WG oder «Gstürm» mit Eltern. Oder jemand hat eine schwere Krankheit.

Welches Thema dominiert?

Wie soll ich meine Laufbahn planen? Mit dem Bologna-System haben die Optionen für die Studierenden zugenommen. Ausserdem ist das Angebot der Hochschulen im In- und Ausland komplex und für viele schwer überschaubar geworden.

Warum stresst es, wenn man viele Optionen hat?

Psychologisch gesehen ist eine der grossen Entwicklungsaufgaben des Menschen: Was wird aus mir? Manche gehen diese Aufgabe rechtzeitig an, andere landen in einem Studiengang, ohne viel geplant zu haben. Wir unterstützen die Studierenden dabei, ihre Entscheidung selbstständig und möglichst sachgerecht zu treffen.

Benötigt die heutige Generation Studierender eine professionelle Lebensschule?

Der Beratungsbedarf ist im Vergleich zur Entwicklung der Hochschullandschaft tatsächlich überproportional gewachsen. Man könnte jetzt auf eine schwächere Belastbarkeit der heutigen Studierenden schliessen. Diese hängt jedoch nicht nur von der Persönlichkeit ab.

Sondern?

Im Bologna-System sind die Prüfungsfrequenzen viel höher. Das ECTS-Punktesystem verlangt ein Studium im Vollzeitmodell. Trotzdem sind 80 Prozent der Studierenden nebenbei noch erwerbstätig. Viele, die mit dieser Belastung nicht klarkommen, landen bei uns.

Wurde durch Bologna die psychologische Beratung schweizweit vereinheitlicht?

Nein, jeder Kanton verfügt über eigene Strukturen, und die organisatorische Verortung der Beratungsstelle ist sehr unterschiedlich.

«Frauen sind eher bereit, über ihre Probleme zu sprechen.»

Beschäftigen weibliche Studierende andere Sorgen als männliche?

Nein – aber Frauen sind beratungsaffiner. Unsere Klientel besteht aus zwei Drittel Frauen und einem Drittel Männer. Die Verteilung der Geschlechter über alle Hochschulen hinweg liegt jedoch bei je rund 50 Prozent.

Wie erklären Sie sich diese Affinität?

Frauen sind eher bereit, über ihre Probleme zu sprechen.

Gemäss Studien ist jeder zweite Studierende psychisch belastet …

Dieses alarmistische Resultat verlangt nach einer methodologischen Überprüfung der Studie. Es gibt Studierende, die in eine ernste existenzielle Krise geraten, aber diese Gruppe ist verhältnismässig klein.

Mit welchen Fragen wenden sich Doktorierende an Sie?

Die Dissertation ist oft an eine Doppelabhängigkeit gekoppelt: Die Doktorierenden sind einerseits am Lehrstuhl von Doktormutter oder -vater angestellt und leisten Erwerbsarbeit für sie. Andererseits bewerten ihre Vorgesetzten die Doktorarbeit.

Kommt es deswegen im Mittelbau häufiger zu Mobbingfällen?

In diesen Strukturen herrschen unsichere Anstellungsverhältnisse und grosser Konkurrenzdruck, weil feste Stellen knapp sind. Ausserdem gibt es oft Unklarheiten und Defizite in der Führung. Das sind alles Voraussetzungen, die Mobbing begünstigen können. Echte Mobbingfälle sind trotzdem relativ selten.