Bild: Valérie Chételat

Jasagt Thomas Hildbrand vom Zentrum für Hochschulentwicklung in Zürich.

Vor gut zwanzig Jahren wurde die Notwendigkeit, als Forscherin oder Forscher internationale Erfahrung aufzuweisen, auf den Fluren meiner Hochschule mit dem Zauberwort «ZAG» umschrieben: «Z Amerika gsi», zu deutsch: «In Amerika gewesen». Mit ZAG im Lebenslauf waren die Aussichten auf eine erfolgreiche akademische Karriere besser. Das ist heute noch so, nur sind mittlerweile viele andere Destinationen ebenfalls gute Sprungbretter für Karrieren.

«Auslandserfahrungen unterstützen die Entwicklung einer eigenständigen wissenschaftlichen Identität.»

Tatsächlich bringt internationale Erfahrung im Wissenschaftsbetrieb viel. Forschende tauschen sich mit einer wissenschaftlichen Community an einem anderen Standort aus und lernen neue analytische, methodische und paradigmatische Zugänge kennen. Durch diesen Austausch ergibt sich oft eine produktive Verunsicherung der eigenen wissenschaftlichen Position.

Zudem lernt man neue Rituale der akademischen Selbstverwaltung kennen. Entscheidend scheint mir auch das Eintauchen in eine andere Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Hinzu kommen kulturelle, sprachliche oder politische Unterschiede, die zwar auch auf Ferienreisen erlebt werden können, aber für die Wissenschaft nur in Verbindung mit wissenschaftlicher Tätigkeit fruchtbar werden.

Alle diese Erfahrungen erweitern das Bewusstsein und unterstützen die Entwicklung einer eigenständigen wissenschaftlichen Identität. Nur selten entsteht eine ähnlich gelagerte Identität in einem rein nationalen Kontext.

Der Anspruch auf Internationalität ist eine Grundvoraussetzung für Wissenschaft und muss gezielt gefordert und gefördert werden. Die Einlösung dieser Forderung gelingt aber nur im Zusammenspiel der Akteure und kann nicht den einzelnen Forschenden aufgebürdet werden. Die Institutionen müssen klar benennen, welcher Art die internationale Erfahrung sein muss für nächste Schritte einer wissenschaftlichen Karriere. Zudem ist es entscheidend, dass Akademikerinnen und Akademiker, die anspruchsvolle wissenschaftliche Positionen anstreben, qualifizierte internationale Erfahrungen frühzeitig in ihre akademische Laufbahn einplanen können.

Thomas Hildbrand ist Gründer des Zentrums für Hochschulentwicklung in Zürich und Autor des Berichts «Next Generation: Für eine wirksame Nachwuchsförderung».

Bild: Valérie Chételat

Neinsagt Julia Nentwich von der Universität St. Gallen.

Die althergebrachte Idee, einige Zeit an einer «renommierten» Universität im Ausland verbringen zu müssen, ist überholt. Heute gibt es bessere Methoden, internationale und innovative Forschung zu fördern. In Zeiten digitaler Technologien können auf Konferenzen geknüpfte Kontakte sehr gut weiter gepflegt und zu Arbeitsbeziehungen ausgebaut werden. Ein gemeinsamer Dropbox-Ordner ist häufig hilfreicher und produktiver als ein längerer Aufenthalt an einer anderen Universität.

Internationale Forschungsaufenthalte sollen es insbesondere Nachwuchsforschenden ermöglichen, internationale Netzwerke zu knüpfen und über die Grenzen der eigenen Universität hinaus zu denken. Aber tun sie das auch immer? Häufig ist die Gastwissenschaftlerin kaum ins dortige Team integriert, und es fehlt die Zeit, gemeinsame Interessen zu verfolgen. Ginge es wirklich um die internationale Zusammenarbeit, so wäre es hilfreicher, sich den tatsächlichen Output der Auslandsaufenthalte anzuschauen. Publiziert ein Wissenschaftler gemeinsam mit an anderen Orten tätigen Forscherinnen? Wurden Projekte beantragt oder auch bewilligt, die länderüberspannende Kooperationen umfassen? Ist eine Wissenschaftlerin in Editorial Boards internationaler Zeitschriften, Konferenzen oder anderer Plattformen engagiert? Werden standortübergreifend Doktorierende betreut? Dies wären wesentlich bessere Indikatoren, um die Fähigkeit zur internationalen Zusammenarbeit zu messen. Nur ein paar schöne Orte im CV aufzulisten reicht nicht.

«Häufig ist die Gastforschende kaum ins dortige Team integriert.»

Der Idealtypus eines körper- und beziehungslosen Wissenschaftlers als unabhängiges, kosmopolitisches Individuum ist längst eine Norm geworden, an der sich Nachwuchsforschende zu messen haben. Für deren soziale Beziehungen ist dies eine grosse Herausforderung. Kleine Kinder lassen sich noch mit auf die Reise nehmen. Was aber ist mit dem Partner oder gar den pflegebedürftigen Eltern? Wird die individuelle Mobilität zu hoch gehalten, kann es leicht passieren, dass ein Selektionskriterium entscheidend wird, das rein gar nichts mit innovativer oder guter Forschung zu tun hat.

Auch stellt sich die Frage, inwieweit das häufige Wechseln der Institution dazu führt, dass man sich weniger vor Ort engagiert. Wer koordiniert die Lehrprogramme, betreut die Studierenden und ist zuverlässig vor Ort? Wer pflegt die Kontakte zu den Unternehmen und Organisationen in der Region? Auch lehren und forschen wir nicht als Individuen, sondern innerhalb von Curricula, Verbünden und Teams.

Viel wichtiger für die Ausbildung innovativer und exzellenter Forschender wären mehr Verlässlichkeit in wissenschaftlichen Karrieren sowie eine grössere Unabhängigkeit des «Mittelbaus». Internationale Netzwerke sollten bereits in einer früheren Phase der Karriere so geknüpft werden können, dass sie für die Forschung nachhaltig fruchtbar sind.

Julia Nentwich ist Titularprofessorin für Psychologie an der Universität St. Gallen und forscht zu Fragen der Chancengleichheit.