Das Urkilogramm ausgedient: Ab November 2018 werden neu sämtliche Masseinheiten auf der Basis von Naturkonstanten definiert. | Illustration: Nadja Stadelmann

Der Meter steht sowohl für messen als auch für das Versmass von Dichtern wie deren Masshalten. Entstanden ist er aber in einer masslos komplizierten Zeit: Im Zuge der Französischen Revolution wurden die vielen unterschiedlichen, lokalen Einheiten durch ein globales Dezimalsystem ersetzt. Napoleon und die Kolonialisten verbreiteten es in Europa und der Welt.

Im November 2018 folgt eine weitere Revolution: Das Kilogramm wird neu definiert – mit Beteiligung des Eidgenössischen Instituts für Metrologie METAS. Mit dessen Watt-Waage wird die Masse eines Kilogramms über die Zeit viel konstanter bleiben.

Die Präzision ist ein Grund, weshalb die Naturwissenschaften zu einer Art Leitkultur innerhalb der Wissenschaften geworden sind. Ökonomen definieren genaue Wirtschaftsindikatoren, Psychologen messen Liebe, und Literaturwissenschaftler quantifizieren Wörter. Aber darf man das? Und gibt es Grenzen? Der Philosoph Oliver Schlaudt gibt Antworten.

DAS URKILOGRAMM
Und es verändert sich doch!

Es lagert unter drei Glasglocken in einem Schrank im Keller des Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) in der Nähe von Paris: das Urkilogramm. Drei Mal wurde der kleine Metallzylinder aus 90 Prozent Platin und 10 Prozent Iridium seit 1889 herausgenommen und mit den nationalen Kopien verglichen. Dafür wurden sie eigens nach Frankreich transportiert. Die Experten stellten fest, dass die Kopien durchschnittlich 50 Millionstel Gramm Masse gewonnen haben. Oder hat der Prototyp abgenommen? Gemäss Definition wäre dies unmöglich. Doch niemand weiss genau, was passiert ist.

Im Oktober 2011 beschlossen die Metrologen des BIPM die unhaltbare Situation zu ändern und das Kilogramm sowie im gleichen Zug das ganze internationale Einheitensystem neu zu definieren. Mit experimentellen Methoden soll das Kilogramm künftig überall unabhängig realisiert werden können. Im November 2018 ist die offizielle Besiegelung geplant.

DIE NATURKONSTANTEN
Das System wird auf den Kopf gestellt

Nicht nur das Kilogramm hat ein Problem. Die Elektriker arbeiteten ebenfalls schon länger mit ihrer eigenen Definition der Stromstärke (Ampere). Auch sie soll in die Familie des internationalen Einheitensystems aufgenommen werden.

Dafür wird das System neu auf den Naturkonstanten aufgebaut. Anstatt diese mit den sieben definierten Einheiten (Meter, Sekunde, Kilogramm, Ampere, Mol, Kelvin, Candela) zu messen, werden die Naturkonstanten (c, Δν, h, e, NA, k, Kcd) endgültig und für alle Zeit festgelegt. Künftig werden die Einheiten experimentell davon abgeleitet.

Für das widerspenstige Kilogramm haben zwei Methoden die Anforderungen an Genauigkeit und Stabilität erfüllt: die Watt-Waage und das Avogadro-Projekt. Die Einheit Kilogramm wird künftig mit diesen Verfahren bestimmt, die sich der Planck-Konstante h bedienen – in einem Fall mit den Umweg über die Avogadro-Konstante NA.

DIE WATT-WAAGE
Wie viel Strom wiegt einKilogramm?

Im Eidgenössischen Institut für Metrologie METAS in Wabern bei Bern steht eine der weltweit fünf Watt-Waagen. Anstatt die nationale Kopie (gelb) des METAS in Paris gegen das Urkilogramm abzuwägen, misst das komplexe Instrument die elektromagnetische Kraft, die nötig ist, um die Gravitationskraft der Vergleichsmasse aufzuheben.

Diese Masse wird von einer Spule gehalten, die im Feld eines Permanentmagneten (rot) eingetaucht ist. Die Metrologen messen den Strom, den es braucht, um in der Spule exakt das Magnetfeld zu induzieren, damit sie vom Permanentmagneten gehalten wird.

Mit dem Strom und der Planck-Konstante h berechnen die Experten das METAS-Kilogramm auf zwanzig Mikrogramm genau. Die Messunsicherheit befindet sich dabei zwar im gleichen Bereich wie bei Vergleichen mit dem Urkilogramm, aber der gemessene Wert ist stabiler – und der Transport nach Paris entfällt.

SILIZIUMKUGEL
22 Trillionen Atome

Ein Linsenschleifer hat zwei fast perfekte Kugeln aus einen Silizium-Monokristall geschliffen: Würde man sie auf die Grösse der Erde aufblasen, betrüge der Höhenunterschied vom höchsten Berg zum tiefsten Tal auf der Kugel weniger als fünf Meter. Das Material ist zu 99,9995 Prozent reines Silizium-Isotop 28, das in Ultrazentrifugen aufkonzentriert wurde. Nun müssen die Techniker nur noch die rund 21,507645 × 1024 Atome. Mit Röntgenstrahlen kann man sehen, wie dicht gepackt die Atome im Kristall sitzen und hochrechnen, wie viele sich in der ganzen Kugel befinden. Da die Masse eines 28Silizium Atoms bekannt ist, kann so die Avogadro-Konstante NA bestimmt werden. Daraus erfolgt auch eine alternative Bestimmung der Planck-Konstante h.

«Viele empfinden es als Skandal, wenn Dinge vergleichbar gemacht werden»

Der Philosoph Oliver Schlaudt untersucht, wie Natur-, Wirtschafts- und alle anderen Wissenschaften die Welt quantifizieren. Durch Messen komme die Präzision ins Spiel und erlaube es den Forschenden, sich der mächtigen Mathematik zu bedienen.

Ist es sinnvoll, emotionale Phänomene wie Liebe zu messen?

Schon diese Frage zeugt von einem tief verwurzelten Unbehagen gegenüber dem Messen!

Sie sagen, es geht in Ordnung. Aber woher kommt dann dieses Unbehagen?

Da ist einerseits die Objektivierung. Es ist unangenehm, mit einem Sachverhalt konfrontiert zu werden. Ähnlich erleben wir einen Arztbesuch: Ist die Diagnose gestellt, muss man mit ihr leben. Der eigentliche Skandal des Messens liegt aber darin, dass Dinge vergleichbar gemacht werden. Im Alltag geschieht dies allerdings permanent. Jemand liebt den Herbst mehr als den Sommer oder wir finden den einen Autor subtiler als den anderen. Der Hauptunterschied zur Wissenschaft besteht lediglich in der Genauigkeit, mit der man diese Schätzungen quantifiziert.

Gibt es etwas, das wir prinzipiell niemals werden messen können?

Hier kommt es wieder, dieses Unbehagen! Wir möchten gerne eine Grenze ziehen. Aber schon beim blossen Sprechen über Dinge sprechen, fangen wir an zu vergleichen. Wir brauchen Allgemeinbegriffe und werden damit dem Individuum nicht gerecht. Wenn ich Sie als Journalist bezeichne, vergleiche ich Sie mit anderen. Oder wenn ich von der französischen Revolution spreche, mache ich sie zu einer Revolution unter anderen. Und schon ist der Skandal da.

Zeigt sich dieses Unbehagen auch gegenüber Effizienzindikatoren wie zum Beispiel Universitätsrankings?

Da geht es eher um ein technisches Problem: Die Messkriterien sind nicht bekannt. Exzellenz und Innovationskraft sind sehr vage Begriffe. Die Kriterien sind schwierig zu definieren, man misst unweigerlich das falsche und schafft damit Fehlanreize. Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger hat dies sehr schön gezeigt.

Messen heisst also nichts Anderes, als Dinge miteinander vergleichen?

Ja, und zwar zu praktischen Zwecken. Erste Masse sehen wir im alten Mesopotamien: Noch ohne Zahlen mussten die praktischen Belange des grossen, zentral regierten Reichs juristisch geregelt und deshalb gemessen werden. Daraus hat sich später die Mathematik entwickelt.

Wo übertreffen die Forschenden die Alltagsvergleiche?

In der Präzision. Sie ist fundamental. Dabei geht es nicht einfach um die 10te Nachkommastelle, sondern es wird ein Tor in ganz neue Welten aufgestossen. Der Mikrokosmos und die Quantenphysik werden erst mit ganz genauen Messungen sichtbar. Dies ist wirklich ein qualitativer Schritt.

Sind beobachtende Wissenschaften weniger objektiv?

Nun, auch Beobachtungen werden ja nicht von irgendwem und irgendwie vorgenommen. Ethnologinnen und Ethnologen marschieren nicht einfach mit einer Fotokamera in eine fremde Kultur. Sie werden genau instruiert, gleichen ihre Beobachtungen ab und betreiben so einen bewussten Prozess der Objektivierung. Das besondere beim Messen gegenüber der Beobachtung ist nicht die Objektivierung, sondern die Präzision, wodurch die ganze Maschinerie der Mathematik angewandt werden kann.

Gibt es einen Mess-Neid der Geistesgegenüber den exakten Wissenschaften?

Ich denke schon. Die Naturwissenschaften sind zur Leitkultur geworden, die definiert, wie eine gute Wissenschaft sein soll. Die Messung ist ein Aspekt davon. Aber wie schon gesagt: Auch in den Geisteswissenschaften wird verglichen. Nur wird dort weniger spezifiziert, wie genau dies geschieht. Es gilt vielmehr die Autorität des geschulten Geistes.

Der Philosoph Oliver Schlaudt untersucht, wie Natur-, Wirtschafts- und alle anderen Wissenschaften die Welt quantifizieren. Der diplomierte Physiker ist Privatdozent an der Universität Heidelberg und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Studien Sciencespo in Nancy.