Dennis Rogers

Dennis Rodgers | Foto: Anoush Abrar

«Mich der Strassengang anzuschliessen, war eine Überlebensstrategie»
Dennis Rodgers, war Mitglied einer Gang in Nicaragua, forscht zu Gewalt am IHEID in Genf.

«Ich ging 1996 im Rahmen meiner Doktor­arbeit in Sozialanthropologie nach Nicaragua, um solidarische Überlebensstrategien unter von Armut Betroffenen in einem postrevolutionären Kontext zu untersuchen. Ich war 23 Jahre alt. Als ich in der Hauptstadt Managua ankam, erlebte ich zwei Schocks: Erstens war die Revolution für die meisten Menschen eine verblassende Erinnerung, genauso wie Solidarität. Zweitens wurde ich drei Tage nach meiner Ankunft von einer Gang auf der Strasse verprügelt. Das war traumatisch.

Ich versuchte, in einem Armenviertel unterzukommen. Und ich musste mich damit abfinden, auf meinen Touren durch die Stadt von Gangs verprügelt zu werden. Das waren territoriale Strassengangs, die ihr Viertel schützten und Fremden den Zutritt verwehrten. Natürlich wollte ich Nicaragua verlassen, aber ich hatte Angst, an der Universität als Versager dazustehen – und blieb. Heute sage ich Doktorierenden, dass manchmal Richtungswechsel nötig sind und dass Forschung stets auch Zufälliges hat.

«Zur Gang zu gehören, stürzte mich immer in ein ethisches Dilemma.»Dennis Rodgers

Schliesslich fand ich eine Bleibe in einem Armenviertel, das für seine wilde Gang berüchtigt war. Ich versuchte, freundschaftliche Beziehungen zu Gangmitgliedern aufzubauen. Obwohl ich schrecklich Angst hatte, setzte ich mich auf die Strasse, um Begegnungen zu ermöglichen. Ein Gangmitglied kam zu mir und bat mich um eine Zigarette. Wir sprachen miteinander. Am nächsten Tag kam er mit einer Gruppe zurück. Zwei Wochen lang kam es zu mehr oder weniger belanglosen Interaktionen, dann begannen sie mich zu testen.

Eines Tages forderten sie mich auf, ihnen beim Diebstahl auf dem Markt zu helfen. Ich lehnte ab. «Du lenkst den Verkäufer nur ab, wir sind es, die stehlen», stellten sie klar. Ich akzeptierte. Sie haben acht Slips gestohlen und mich beauftragt, sie an Frauen aus der Nachbarschaft weiterzuverkaufen. Da haben sie sich einen Spass auf meine Kosten gegönnt. Einmal musste ich mich verteidigen, als mich ein Gangmitglied mit einem Messer bedrohte. Daraufhin erklärten sie, dass ich einer von ihnen sei, und boten mir an, mich ihnen anzuschliessen. Ich akzeptierte. Das war eine Überlebensfrage, keine Forschungsstrategie.

Ich beantragte einen Beobachterstatus und kündigte an, dass ich keine Schusswaffen verwenden, keine anderen Quartiere angreifen und keine Menschen verprügeln wollte. Ich verteidigte aber mich selbst und beschützte die Menschen in meinem Viertel bei Angriffen rivalisierender Banden. Zur Gang zu gehören, stürzte mich immer in ein ethisches Dilemma. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, ich habe illegale Dinge gesehen – ich kann aber immer noch in den Spiegel schauen. Daraus gelernt habe ich, dass Ethik oft sehr situa­tions­bezo­gen ist, dass es aber wichtig ist, sich an bestimmte Grundsätze zu halten.

«Die Neuzugänge sind immer noch bereit, mit mir als altem Hasen zu sprechen.»Dennis Rodgers

Ich musste Methoden zum Schutz der Identität meiner Gesprächspartner entwickeln, die ich immer noch verwende. Ich stelle sicher, dass meine Feldnotizen für andere unbrauchbar sind, falls sie beispielsweise von der Polizei beschlagnahmt werden. Dabei ändere ich die Namen, mische Französisch, Englisch und Spanisch und verwende Codes. Es gibt auch Dinge, die ich nicht aufschreibe. Das schränkt meine Forschung ein, aber das schulde ich den Personen, die sich mir ohne Gegenleistung anvertraut haben. Nachdem ich meinen Platz gefunden hatte, konnte ich die Entwicklung der Bande verfolgen.

Die Neuzugänge sind immer noch bereit, mit mir als altem Hasen zu sprechen. Diese Längsschnittforschung zeigt, wie sehr die Gangs die Entwicklung der nicaraguanischen Gesellschaft widerspiegeln. Sie gab mir auch den Anstoss zu vergleichender Forschung. Meine Erfahrung hat sich als sehr nützlich erwiesen. Sie ermöglicht mir auch heute noch andere Perspektiven, etwa in meinem aktuellen Forschungsprojekt über Gangs in Marseille. Ich konnte alternative Interpretationen zu den vorherrschenden, oftmals sehr sensationsheischenden entwickeln.»

Jasmin Barman-Akzösen | Foto: Anoush Abrar

«Das habe ich nur durch eigene Blutproben herausgefunden»
Jasmin Barman-Aksözen, leidet an Erythropoietischer Protoporphyrie, forscht an Therapien dafür an der Universität Zürich.

«Eins zu hunderttausend – so klein ist die Wahrscheinlichkeit, mit Erythropoietischer Protoporphyrie (EPP) geboren zu werden. Nur rund siebzig Menschen leiden in der Schweiz an dieser Stoffwechselstörung. Mich hat es getroffen – und ich forsche daran. Ohne Medikament bin ich extrem lichtempfindlich. Seit der Kindheit löst jeder Sonnenstrahl, jede Reflexion von Wasser, sogar das Licht bestimmter Lampen bei mir grosse Schmerzen aus – als würden meine Adern von innen verbrennen. Heute weiss ich: Stoffwechselprodukte lagern sich in meinen Adern ab, reagieren mit Licht und verursachen in der Haut Verbrennungen zweiten Grades. Weil man das nicht sieht, blieb die Krankheit lange unentdeckt. Ich wusste bis zum Alter von 27 Jahren nicht, was mit mir los war.

Dass ich Biologie studierte, hatte nichts mit meiner Krankheit zu tun. Zunächst interessierte ich mich für die Pflanzengenetik. Ich hatte es aufgegeben, eine Antwort auf meine Schmerzen zu finden. Erst gegen Ende des Studiums kam ich in Kontakt mit einer anderen Betroffenen, die genau mein Leben beschrieb. Eine Erleuchtung! Sie lud mich zu einem Symposium ein, wo ich meine spätere Doktormutter kennenlernte, und ich stieg in die EPP-Forschung ein. Erst hatte ich Angst, es könnte mir zu sehr nahegehen. Das, was ich mache, ist aber sehr abstrakt. Ich stehe im Labor, arbeite mit Zellkulturen.

«Im Endeffekt habe ich als Patientin doch das grösste Interesse daran, dass die Daten objektiv sind.»Jasmin Barman-Aksözen

Als Betroffene geht man vielleicht auch noch einmal tiefer in die Materie hinein. Zudem bin ich als Patientin und Patientenvertreterin für seltene Krankheiten gut vernetzt und erhalte wichtige Informationen zu den Daten. So entdeckte ich einen wichtigen Faktor im Eisenstoffwechsel bei EPP. Dies gelang nur, weil ich unter Eisentherapie eigene Blutproben abnahm und sie sehr engmaschig kontrollieren konnte.

Zudem wusste ich auch von anderen Patienten, dass sie Verschlechterungen durch Eisen bemerkten. Viele Ärztinnen realisierten das nicht. Wow! Als Betroffene freut man sich noch einmal mehr. Einen Konflikt durch meine Betroffenheit sehe ich nicht: Im Endeffekt habe ich als Patientin doch das grösste Interesse daran, dass die Daten objektiv sind.»

Tobias Urech | Foto: Anoush Abrar

«Ich bin eher fasziniert als persönlich angegriffen»
Tobias Urech, ist homosexuell, forscht zu Geschlechtergeschichte an der Universität Basel.

«Ich bin schwul und forsche zu Themen wie Queer History, Sexualitätsgeschichte und Geschlechtergeschichte. Den Ausdruck Betroffenheit in der Forschung finde ich da etwas unpassend. Ich bin von meiner Homosexualität ja nicht betroffen, als wäre sie etwas Negatives. Natürlich habe ich aber eine persönliche Verbindung zu meinem Forschungsgebiet – und die prägt meine Arbeit. Ich empfinde diese Nähe als etwas enorm Positives. Aktuell beschäftige ich mich mit Freundschaft als Möglichkeitsraum für homoerotisches Begehren im 20. Jahrhundert. Ich untersuche vier Freundschaftspaare und arbeite mit Quellen wie Briefen, Tagebüchern oder Autobiografien.

Ein Beispiel: Zwei Frauen, beide mit Männern verheiratet, verlieben sich in den 1930er-Jahren ineinander. Sie konnten ihre Liebe innerhalb der Beziehungsform Freundschaft leben, ohne gesellschaftlich dafür sanktioniert zu werden. In den Sexualwissenschaften um 1900 stosse ich zuweilen auf Aussagen, die heute befremdlich klingen. Ich bin dann eher fasziniert als persönlich angegriffen – mich interessiert, welche Denkweisen hinter solchen Aussagen stecken. Meine Doktormutter sagte einmal, sie fühle sich in solchen Situationen wie eine Botanikerin, die sich wundert, was für ein spezielles Pflänzchen sie entdeckt hat.

«Jeder, der forscht, ist auch Privatperson – das lässt sich nicht trennen.»Tobias Urech

Ich trete auch als Dragqueen Mona Gamie auf. Geschichten, Lieder und Anekdoten aus der Forschung fliessen in mein Bühnenprogramm ein. Das ist eine Form von queerem Aktivismus. Früher war ich zudem bei der Milchjugend (Anm. d. Red.: LGBTQ-Jugendorganisation) aktiv und engagierte mich parteipolitisch. Heute konzentriere ich mich auf die Wissenschaft und halte es mit Virginia Woolf: Thinking is my Fighting.

Es ist wichtig, wissenschaftlich redlich zu forschen, aber dass Wissenschaft grundsätzlich neutral und objektiv sei, halte ich für illusorisch. Alle sind geprägt von Vorstellungen. Deshalb mache ich die persönliche Verbindung zu meinem Forschungsgebiet auf der Website der Uni transparent. Ich will betonen: Jeder, der forscht, ist auch Privatperson – das lässt sich nicht trennen.»

Asmaa Dehbi | Foto: Anoush Abrar

«Ich kann rassistische Situationen als Rohmaterial betrachten»
Asmaa Dehbi, hat eine algerische Familien­geschichte, forscht zu antimuslimischem ­Rassismus an der Universität Freiburg.

«Ich befasse mich mit antimuslimischem Rassismus, um besser zu verstehen, wie nach dem 11. September 2001 und der Minarettverbotsinitiative in der Schweiz das Wort Migration mit Islam assoziiert und wie aus ‹dem Anderen› ‹der Muslim› wurde. Ich bin mit einer algerischen Migrationsgeschichte in der Schweiz aufgewachsen und habe diesen Übergang persönlich erlebt. Ich wurde von aussen nicht mehr hauptsächlich als arabisch wahrgenommen, sondern als muslimisch, unabhängig ­davon, ob ich praktizierend bin oder nicht. Ich habe Rassismus erlebt, zum Beispiel in jüngeren Jahren, als mich Erwachsene ständig fragten, ob ich ein Kopftuch tragen werden müsse oder ob ich mich von gewalttätigen ­Ereignissen im Ausland distanziere.

Marginalisiert und auf meine religiöse Identität reduziert zu werden, machte mich traurig und wütend. Als Reaktion wendete ich mich der akademischen Welt zu. Als Outsider within konnte ich scheinbare Normalitäten infrage stellen. Diese Position machte mir aber auch bewusst, wie muslimische Forschende in der Wissenschaft unterrepräsentiert sind. Als Frau, die als Muslimin wahrgenommen wird, musste ich mehr tun, um als Expertin zu gelten.

«Alle Forschenden haben verzerrte Wahrnehmungen, auch nicht marginalisierte Personen, die sich für objektiv halten.»Asmaa Dehbi

Ich orientiere mich an feministischen Standpunkttheorien: Eine persönliche Betroffenheit ist durchaus wertvoll, da alles Wissen in einen Kontext eingebettet ist und alle Forschenden verzerrte Wahrnehmungen haben, auch oder gerade nicht marginalisierte Personen, die sich für objektiv halten. Die eigene Position muss aber transparent gemacht und kritisch reflektiert werden.

Da ich mich mit Diskriminierung beschäftige, ist es wichtig, diese in meiner Forschung so weit wie möglich zu reduzieren. Meine Arbeit darf nicht gegen andere marginalisierte Gruppen gerichtet sein, und ich versuche, mir der Risiken der Essentialisierung und Verabsolutierung von Identitäten bewusst zu sein. Meine Forschung beeinflusst mein Leben. Ich fange an, überall Rassismus wahrzunehmen. Das ist manchmal ermüdend, aber ich kann mich solchen Situationen besser stellen, wenn ich sie als Rohmaterial für meine Arbeit betrach­te. Antimuslimischen Rassismus zu erkennen, zu analysieren und zu kritisieren, macht uns stärker und liefert uns Daten, um Dinge zu ändern.»

Nathalie Herren | Foto: Anoush Abrar

«Wir wollen psychisch belastete Personen nicht als undemokratisch darstellen»
Nathalie Herren, hat depressive Episoden, forscht zu politischen Konsequenzen von Depression an der Universität Bern.

«Ich forsche im Bereich der politischen Psychologie und leide unter depressiven Phasen. Während akuter Episoden bin ich nicht arbeitsfähig – das kommt aber nur noch selten vor. Heute bin ich relativ stabil, medikamentös gut eingestellt und in therapeutischer Begleitung.

Aus meiner Forschung weiss ich: Psychologische Faktoren prägen mit, wie wir politisch denken und handeln. Aktuell untersuchen wir die politischen Konsequenzen depressiver Symptome. Psychische Belastungen kommen immer häufiger vor. Daher sollten wir mehr darüber erfahren, welche Rolle diese in unserer Demokratie spielen. Bestehende Forschung zeigt, dass sich Menschen mit depressiven Symp­tomen seltener politisch beteiligen. Unsere ersten Analysen deuten darauf hin, dass Betroffene eher dazu neigen, populistische Ideen und Parteien zu unterstützen.

«Meine Offenheit trägt zur Enttabuisierung psychischer Probleme bei.»Nathalie Herren

Während schwerer depressiver Episoden gehe ich weder wählen noch abstimmen – dazu fehlt mir die Kraft. Einen Hang zum Populismus beobachte ich bei mir aber nicht. Dies zeigt mir, dass wir keine deterministischen Zusammenhänge untersuchen. Mit Kolleginnen und Studierenden gehe ich offen mit meiner Krankheit um, was von vielen geschätzt wird. Ich merke aber, dass sich viele noch immer unsicher fühlen, darüber zu sprechen – oft aus Angst, etwas Falsches zu sagen.

Meine Offenheit trägt zur Enttabuisierung psychischer Probleme bei und ermöglicht mir, meine Perspektive aktiv in die Forschung einzubringen. So bin ich etwa besonders sensibilisiert, wenn es darum geht, Missbrauch oder Fehlinterpreta­tionen unserer Ergebnisse zu vermeiden. Mir ist wichtig, dass bereits vulnerable Gruppen nicht noch weiter stigmatisiert werden. Wir wollen keine Narrative bedienen, die psychisch belastete Personen als gefährlich oder per se undemokratisch darstellen. Natürlich bringt jeder und jede Prägungen und Voreingenommenheiten mit. Problematisch wird es erst, wenn man sich dessen nicht bewusst ist und sich nicht mit anderen Perspektiven auseinandersetzt.»