Bild: Valérie Chételat

Sie ist zweifellos vielbeschäftigt: Gerade erst ans Departement für Bioinformatik der Universität Lausanne berufen, ist Anna-Sapfo Malaspinas voll mit der Einrichtung ihres Labors beschäftigt. «Wir stecken gerade mittendrin … Stört es Sie, wenn ich während des Gesprächs esse?» So erzählt sie also auf einem Plastikstuhl im Campus-Park bei einem Birchermüesli von sich. Sie spricht mit hoher Kadenz, enthusiastisch, untermalt von Wörtern wie «cool» und «fun».

Die 35-jährige Forscherin untersucht, wie sich die Menschen auf der Erde ausbreiteten: wie und wann sie von Afrika aus neue Lebensräume besiedelten und sich an diese anpassten. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, analysiert sie aktuelle und historische DNA-Proben aus Museumssammlungen mit Hilfe von Computer- und mathematischen Modellen. Ihr Team prüft beispielsweise die Hypothese, wonach ein transpazifischer Kontakt zwischen Polynesien und Amerika existiert haben soll. Für dieses Projekt sammelte sie auf den Osterinseln archäologische DNA-Proben. Ein weiteres Projekt entsprang einem Anruf aus Südamerika: Bei den Untersuchungen menschlicher Überreste im Nationalmuseum in Rio de Janeiro stellte ein brasilianischer Forscher fest, dass bestimmte Individuen einer seit Jahrhunderten lokal ansässigen Bevölkerungsgruppe ein rein polynesisches Genom aufwiesen.

Ihre Arbeiten fanden im vergangenen Jahr nach der Publikation eines Artikels über die Besiedlung Australiens in Nature ein reges Medienecho. Der Artikel legt dar, dass Aborigines und eurasische Bevölkerungsgruppen vor rund 72 000 Jahren mit ein und derselben Migrationswelle aus Afrika kamen. Plötzlich stand die Biologin im Rampenlicht, was ihr nicht besonders behagte: «Ich bin medienscheu. Aber ich sehe es als meine Pflicht, meine Ergebnisse in einer allgemein verständlichen Form zu kommunizieren. Die Gesellschaft finanziert meine Forschung, selbstverständlich gebe ich ihr etwas zurück.»

Selbst Proben sammeln

Anna-Sapfo Malaspinas wird in Genf in eine Familie mit vier Geschwistern geboren. Ihr Vater ist Physiker, ihre Mutter Kunstmalerin mit griechischen Wurzeln. Mit 17 verbringt sie drei Monate in Kreta bei ihrem Patenonkel, einem Chemiker an der Universität in Iraklio. «Ich ging mit in sein Labor und stellte Fragen. Ich war fasziniert von der Freiheit, die seine Arbeit bot: monatelang über eine Frage nachdenken, Ideen austauschen, Versuche machen, von vorn beginnen. Das war es, was ich machen wollte.» Sie denkt über ein Studium in Rechts- oder Geisteswissenschaften nach, entschliesst sich für Medizin, verpasst aber den Anmeldetermin und studiert schliesslich Biologie und Physik – gleichzeitig.

Wie selbstverständlich wendet sie sich nach einer Vorlesung über Evolution der Populationsgenetik zu, die ihr Leben verändert habe. Die Liebe bringt sie nach Kalifornien, und sie beginnt mit einem Doktorat an der prestigeträchtigen University of California in Berkeley. «Ich ging hin und hatte weder Angst noch Erwartungen. Mein Koffer war mit Badezeug gefüllt, weil ich dachte, dass Berkeley bei Los Angeles liegt, nicht San Francisco!» 2015 kehrt sie nach einem Aufenthalt in Dänemark in die Schweiz zurück.

«Monatelang über eine Frage nachdenken, Versuche machen, von vorn beginnen: Das war es, was ich machen wollte.»Pedro Domingos

Die Biologin stellt ihren Lebenslauf dar, als bestünde er aus einer Folge glücklicher Zufälle, als hätte ihr Weg einfach unter einem guten Stern gestanden. Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen, wo Malaspinas ihr Postdoc machte, teilt diese Ansicht nicht: «Anna verdankt ihre Karriere ihrer brillanten Intelligenz und ihrem hohen Arbeitseinsatz.» Laurent Excoffier, Populationsgenetiker an der Universität Bern, rühmt ihre Fähigkeit, theoretische Studien mit empirischen Daten zu verbinden. «Anna ist eine der wenigen Personen, die sowohl Modelle entwickeln und diese implementieren als auch im Feld Proben sammeln und diese analysieren kann, um ihre Theorien zu prüfen.»

Das Handy der Forscherin läutet unablässig; sie schaut auf die Uhr. Gerade noch Zeit, ein Projekt zu erwähnen, das sie intensiv beschäftigt: ein von ihren Arbeiten über die australischen Urbevölkerungen inspiriertes Theaterstück für das ethnographische Museum in Genf und das Musée de l’Homme in Paris. Wie kam es zu diesem Projekt? «Ich hielt Vorlesungen über Statistik, und die Studierenden schliefen dabei ein … Das liess mich darüber nachdenken, wie Wissenschaft besser vermittelt und ein grösserer Personenkreis erreicht werden kann.» Dabei wurde die Idee eines Theaterstücks für Kinder geboren. Durch ein Treffen mit dem Komiker Ludovic Payer weckte sie in der Westschweizer Theaterwelt Interesse für ihr Projekt, namentlich bei Dominique Ziegler, der den Text schrieb, und beim Regisseur Joan Mompart.

Für das Stück wandert das Publikum durch das Museum: Es folgt einer jungen Wissenschaftlerin, die sich an ihre DNA-Forschung erinnert. Sie entführt das Publikum auf eine Reise von den Ursprüngen in Afrika nach Australien, wo es auf die Aborigines trifft. «Wir möchten die Idee vermitteln, dass Wissenschaft Spass macht. Gleichzeitig erklären wir aber auch, was ein Genom ist, wie es die Geschichte unserer Vorfahren widerspiegelt und wie wir alle eigentlich Verwandte und Migranten sind. Schliesslich wollen wir das Bewusstsein für indigene Bevölkerungen wecken.» Eine weitere Art, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

In Biologie und Informatik zu Hause
Geboren 1982, studiert sie an der Universität Genf Biologie und Physik. Nach ihrem Doktortitel 2011 in Genomik und Bioinformatik an der University of California in Berkeley kommt sie via Kopenhagen und Bern im Mai 2017 an die Universität Lausanne, um hier ein Labor für Populationsgenetik zu gründen. Sie erhält Stipendien vom SNF sowie einen ERC Starting Grant.

Sophie Gaitzsch ist eine Schweizer Journalistin und lebt in Paris.