Der Blockgletscher Muragl enthält meterdickes Eis. Auf seiner Zunge befinden sich mehrere Bohrlöcher, mit denen der Zustand des Permafrostes analysiert wird. | Foto: Mara Truog

Wie eine zähe, braungraue Masse aus Stein und Felsen biegt der Blockgletscher Muragl unter dem steilen Geröllhang des Piz Muragl in einer leichten Linkskurve Richtung Tal. Wobei der Begriff Gletscher für diese spezielle Geländeform etwas verwirrend ist, findet Jeannette Nötzli. Mit Blick auf die dramatische Szenerie, im Rücken die Bergstation hoch über Samedan, findet die Permafrostforscherin vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos: «Ein Blockgletscher ist kein eigentlicher Gletscher.»

Die Zunge der «eishaltigen kriechenden Schutthalde», wie sie das Gebilde lieber bezeichnet, ist einer von rund 30 Standorten von Permos. Das Schweizer Permafrostmessnetz, dessen Koordinatorin Nötzli ist, beobachtet seit 25 Jahren Zustand und Veränderungen des permanenten Bodenfrosts in den Schweizer Alpen.

Mit der Standseilbahn geht es hoch nach Muottas Muragl. | Fotos: Mara Truog

Auf dem Rücken des Blockgletschers Muragl oder der «eishaltigen, kriechenden Schutthalde», wie Forscherin Jeannette Nötzli ihn nennt, lässt sich der Zustand des Permafrostes gut beobachten.

Die Bohrlöcher haben mit der Einfassung aus Beton und Dolendeckel die perfekte Tarnung im Geröll. Daneben werden mit auffälligeren Instrumenten Wetterdaten gemessen.

Die Wanderung von der Bergstation zum Blockgletscher dauert eine knappe Stunde.

Blitzableiter schützen die Messstationen und führen die Energie ins Gestein.

Permafrost gibt es grundsätzlich dort, wo es keine geschlossenen Grasflächen mehr hat, wie Nötzli erklärt, oft ungefähr ab 2200 Metern über Meer, verborgen in Felswänden und Schuttgebieten. Die Bodentemperatur im unsichtbaren Untergrund muss das ganze Jahr bei oder unter null Grad Celsius sein. In der Schweiz findet er sich je nach Modell in unter drei bis fünf Prozent des Bodens.

Ein Blockgletscher ist ein deutlicher Indikator für das Vorkommen von Permafrost. Oft sind darin mehrere Meter mächtige Eislinsen enthalten. Auf seiner Oberfläche sind zudem meterdicke Kriechwulste zu sehen. Doktorand Matthias Lichtenegger, der die Bewegungen innerhalb der Geröllungetüme untersucht, geht davon aus, dass es in der Schweiz mehrere tausend davon gibt.

Einen Meter pro Jahr talwärts

Der Blockgletscher im Val Muragl bewegt sich aktuell etwas mehr als einen Meter pro Jahr talwärts. Die Geschwindigkeit der eishaltigen Schuttzungen hat in den letzten Jahren laut Nötzli generell zugenommen. Im Jahr 2024 etwa betrug die schweizweite Zunahme im Vergleich zum Vorjahr rund 40 Prozent. Es war denn auch das zweitwärmste hydrologische Jahr seit Beginn der systematischen Wettermessungen in der Schweiz im Jahr 1864.

An den meisten Standorten von Permos werden die Daten immerhin seit mehr als zwei Jahrzehnten erhoben, so auch am Blockgletscher Muragl, wo das erste Bohrloch aus dem Jahr 1999 stammt. Die jüngsten fünf 15 bis 25 Meter tiefen Löcher wurden im August 2024 während dreier Wochen in das Fels-Eis-Gemenge gebohrt, speziell für ein Forschungsprojekt zur Analyse der Blockgletscherdynamik in den Schweizer Alpen, an dem Lichtenegger beteiligt ist.

«Permafrost versiegelt den Boden und ist für Wasser undurchlässig.»Jeannette Nötzli

So eindrücklich sich der Blockgletscher auf rund 2500 Metern über Meer den Hang hinabzieht, so unspektakulär machen sich die Messstationen auf seinem schartigen Rücken aus. Nach dem Besteigen des rund zwanzig Meter hohen Kegels aus rötlichen Steinen wähnt man sich verloren in der unwirtlichen Weite.

Die Stangen und Dolendeckel der Bohrlöcher verschwinden im grobkantigen Meer. «Vor lauter Steinen den Blockgletscher nicht sehen», kommentiert Nötzli lachend. Beim vorsichtigen Nähergehen – ein Sturz auf die harten Blöcke tut weh – sind die Indizien für die wissenschaftliche Arbeit vor Ort schliesslich doch erkennbar.

Strom misst Wasseranteil

Der Zustand des Permafrostes wird von Permos mit drei verschiedenen Messgrössen beobachtet. Erstens über die Temperatur im Boden. Dabei registrieren die Sensoren in den Bohrlöchern die Wärme in unterschiedlichen Tiefen mit zunehmenden Abständen. Wenn die Temperatur im gefrorenen Untergrundmaterial gegen null Grad steigt und es langsam aufzutauen beginnt, bleibt sie über einige Zeit fast konstant.

Um zu verstehen, wie sich im Gemisch aus Geröll, Kies und Sediment die Anteile von Eis und Wasser verschieben, wird als zweite Grösse der elektrische Widerstand erhoben. «Wir schicken dafür Strom in den Boden. Wasser leitet ihn viel besser als Eis», erklärt Nötzli.

«Das Wasser spritzte beim Spülen in meterhohen Fontänen aus den Löchern.»Jeannette Nötzli

Beim Beispiel Blockgletscher Muragl hat es mehr Wasser im Geröll, als die Forschenden bisher angenommen hatten. Das zeigte sich bei den Bohrungen 2024: «Es spritzte beim Spülen in meterhohen Fontänen aus den Löchern.» Das zunehmend flüssige Wasser im gefrorenen Untergrund hat Einfluss auf dessen Stabilität, weil es zusätzliche Wärme und Druck bringt. «Permafrost versiegelt den Boden und ist für Wasser undurchlässig», veranschaulicht Nötzli.

Als dritte Messgrösse werden die Geschwindigkeiten der Schuttgebilde analysiert. «Am Schluss haben wir ein umfassendes Bild der Permafrostveränderungen und eine Datenbasis für Forschung und Praxis, um Modelle anzutreiben.»

Permafrost stets nur ein Faktor

Modellrechnungen dienen einer besseren Abschätzung der zukünftigen Bedingungen, unter anderem in Anrisszonen von Felsstürzen. Doch Nötzli mahnt: «Das Auftauen von Permafrost ist immer nur ein Faktor unter vielen für Bergsturz-Ereignisse wie in Blatten.»

Entscheidend seien immer auch eine steile Topografie sowie Zerklüftung und Schwächezonen des Gesteins. Doch eines ist klar: Die verschiedenen Messungen in den Schweizer Alpen zeigen Veränderungen im Permafrost in den letzten Jahrzehnten, und diese sind die Folge der Klimaerwärmung.

An Kabeln, die bis 25 Meter tief in den Untergrund des Blockgletschers führen, sind in Abständen von einem halben bis zu mehreren Metern Temperatursensoren angebracht. | Fotos: Mara Truog

Einen Meter pro Jahr bewegt sich die zähe, braune Masse mit ihren Kriechwulsten auf der Oberfläche den Berg hinunter.

Doktorand Matthias Lichtenegger untersucht die Bewegungen innerhalb der schartigen Ungetüme. Er vermutet, dass es in der Schweiz mehrere tausend davon gibt.

Lichtenegger überträgt Wetterdaten von der Messstation vor Ort auf sein Tablet.

Gut getarnt unter dem Dolendeckel versteckt sich das neue Bohrloch von Permos, das seit rund einem Jahr noch genauere Erhebungen der Temperaturen im gefrorenen Untergrund ermöglicht.

Jeannette Nötzli beobachtet den Zustand des Permafrostes in den Schweizer Alpen seit Jahrzehnten: «Die Änderungen, die wir messen, sind das Resultat der langfristigen Entwicklung an der Oberfläche. Das ist ein Klimasignal.»

Nötzli und Lichtenegger machen sich jetzt daran, einen der Dolendeckel zu einem Bohrloch von August 2024 anzuheben. Mehrmals versuchen sie es vergeblich. Dabei werden auch Hilfsmittel im Gepäck gesucht. Nötzli hat eine innovative Idee jenseits ihrer Expertise: «Durchsichtig sollten diese Rucksäcke sein!» Alle lachen. Schliesslich gelingt es mit einem einfachen Trick, die schwere Eisenscheibe doch zu bewegen: Stein draufschmeissen – von denen gibt es hier wahrlich genug. Verklemmter Deckel gelöst!

Innerhalb der Betonfassung steckt ein schmales grünes Rohr. Darin führen drei Kabel mit Temperatursensoren tief in den Blockgletscher hinein. Die Energie dafür liefert ein kleines Solarpanel. «Die Sensoren registrieren nahe der Oberfläche jede Wolke, die vorbeizieht. Je weiter unten, desto mehr werden die Temperaturschwankungen gedämpft», so Nötzli.

Klimasignal in 20 Meter Tiefe

Tag und Nacht seien im obersten Meter noch detektierbar, etwa bei zehn Metern Tiefe dann nur noch Winter und Sommer. «Da beträgt die zeitliche Verzögerung schon ein halbes Jahr. Wir sehen jetzt gerade die Temperatur vom letzten Winter.» Bei zwanzig Metern Tiefe und mehr verzögert sich dann alles um Jahre. «Einen einzelnen heissen Sommer merkt man da kaum mehr», erklärt Nötzli, «zehn aber schon.»

In der Tiefe der sogenannten Nullamplitude schliesslich sind keine Jahresschwankungen mehr abzulesen. «Die Änderungen, die wir hier messen, sind das Resultat der langfristigen Entwicklung an der Oberfläche. Das ist ein Klimasignal.»

«Im Permos-Messnetz kommt die ganze kleine Schweizer Forschungsgemeinschaft zu Permafrost zusammen.»Jeannette Nötzli

Im neuen Bohrloch von Permos, das zeitgleich mit denjenigen für das aktuelle Forschungsprojekt ausgehoben wurde, messen die Forschenden in den wichtigsten Tiefen gleich mehrfach. Für den Fall, dass Kabel oder Sensoren kaputtgehen. Das kann durch Lawinen, Stürme oder Verschiebungen in der Geröllhalde passieren. Es sind dabei auch analoge und digitale Temperaturketten eingebaut. «Damit wir die Langfristtauglichkeit der Sensoren vergleichen können», erklärt Nötzli.

«Das ist wie ein Forschungsprojekt innerhalb des Monitorings», wirft Lichtenegger ein. Das ganze System von 2024 sei eine Synergie zwischen dem über Jahrzehnte arbeitenden Messnetz und dem vier Jahre laufenden, aktuellen Forschungsprojekt. «Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie das zusammengeht», findet Nötzli. Und betont: «Im Permos-Messnetz kommt die ganze kleine Schweizer Forschungsgemeinschaft zu Permafrost zusammen.»

«Es ist cool, dass es von diesem Standort schon so viele Daten gibt und wir jetzt noch zusätzliche Messungen machen können.»Matthias Lichtenegger

Lichtenegger will herausfinden, was genau die Bewegungen in Blockgletschern antreibt: «Es ist natürlich cool, dass es von diesem Standort schon so viele Daten gibt und wir jetzt noch zusätzliche Messungen machen können.» Der Doktorand aus Graz analysiert etwa auch den Porenwasserdruck. «Der ist nicht überall gleich», führt er aus. «Oben ist das Material recht grobblockig, weiter unten aber hat es Kies und feines Sediment.»

Für Lichteneggers Erhebungen stehen auch eine Kamera und Instrumente für die Meteodaten vor Ort bereit. Sie dokumentieren die Lufttemperatur und die Stärke der Sonneneinstrahlung. Weitere neue Installationen messen den elektrischen Widerstand zwischen zwei Bohrlöchern sowie die Deformationen im Innern des Blockgletschers.

Nur noch wenig analoges Ablesen

Jetzt heben die beiden Forschenden den Dolendeckel wieder auf die Betonfassung und verschliessen das Bohrloch. Lichtenegger steigt über kantige Kriechwülste hoch zur Wetterstation, um die Daten auf sein Tablet zu übertragen. Zwar werden fast alle Informationen heute online gesendet, einige Ausnahmen gibt es aber noch.

Leider hängt die Übertragung dieses Mal, und wegen der unsicher werdenden Wetterbedingungen geht es nun trotzdem zurück zur Bergstation der Zahnradbahn. Mit der braungrauen Geröllzunge am Berg im Rücken plätschern nun auch die Gespräche langsam wieder Richtung Alltag im Tal.