Marcel Tanner wünscht sich eine transdisziplinäre Wissenschaft, damit der Dialog mit der Politik fruchtbar wird. | Foto: Annette Boutellier

Im letzten Heft (Horizonte 127, S. 48) wurden wir von Matthias Egger treffend daran erinnert, dass der Einbezug der Wissenschaft bei Entscheidungen über die öffentliche Gesundheit ein ethischer Imperativ ist. Das wird gerade jetzt deutlich, wo wir mit den ersten Impfaktionen zu Sars-Cov-2/Covid-19 konfrontiert sind.

«Noch vor der Pockenimpfung war bekannt, dass die Variolation soliden Schutz verleihen kann.»

Vergessen wir dabei nicht, dass die transdisziplinären Grundlagen und Vorgehensweisen zur Lösung solch wichtiger Fragen schon vor 250 Jahren gelegt wurden. Noch vor der Pockenimpfung durch Edward Jenner 1796 war im Nahen Osten bekannt, dass die Variolation, das Einritzen von Bläscheninhalt von an Pocken Erkrankten an nicht infizierten Menschen, soliden Schutz verleihen kann. Das Prozedere barg auch Risiken. Eine zu grosse Dosis hatte eine schwere, gar tödliche Pockeninfektion zur Folge.

Lady Montagu, die Frau des britischen Vizekonsuls von Konstantinopel, brachte diese Beobachtungen Anfang des 18. Jahrhunderts nach Zentraleuropa. Es folgte eine breite Diskussion über Möglichkeiten und Nutzen der Methode. Ludwig XVI. bat den Basler Mathematiker Daniel Bernoulli (1700 –1782), das Risiko der Variolation für das französische Königreich abzuschätzen: Lassen wir die Pockenepidemien wüten und nehmen die Todesfälle in Kauf oder beginnen wir mit der Variolation?

«Mögen diese Erkenntnisse die Wissenschaft dazu anregen, noch umfassender transdisziplinär vorzugehen.»

Bernoulli präsentierte seine quantitativen Analysen und Einschätzungen 1760. Er errechnete nicht nur die Wahrscheinlichkeiten zu sterben, sondern verglich das individuelle Risiko und die Risikoeinschätzung, welche die Akzeptanz der Variolation durch die Bevölkerung einschloss, mit Risiken und Nutzen für die Gesellschaft. Damit legte er das erste systemische mathematische Modell einer Infektionskrankheit als Basis für die Entscheidungsfindung und die Risiko-Nutzen-Abwägung einer landesweiten Variolation vor (D. Bernoulli, Essai d’une nouvelle analyse de la mortalité causée par la petite vérole.Mém. Math. Phys. Acad. Roy.Sci., Paris, 1766).

Wir erkennen hier nicht nur den Nutzen von mathematischen Modellen, sondern vor allem auch, wie transdisziplinäre Wissenschaft den Dialog von Wissenschaft und Politik fruchtbar macht. Mögen diese Erkenntnisse gerade jetzt die Wissenschaft anregen, noch umfassender transdisziplinär vorzugehen, damit wir nicht nur die Covid-19-Pandemie, sondern die grossen Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung bewusst, konsequent und zusammen mit den Entscheidungsträgern und der Bevölkerung angehen können.