Marienthalstudie 1933

Die Marienthalstudie von 1933 untersuchte die Auswirkungen lang anhaltender Arbeitslosigkeit in einer Arbeitersiedlung bei Wien und gilt heute als Meilenstein in der Sozialforschung. | Foto: Hans Zeisel, 1931. Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich.

In den Sozialwissenschaften herrscht seit Jahrzehnten ein Zwist, der auch heute anhält. Es geht dabei um die Frage, welche Forschungsmethoden besser sind: qualitative oder quantitative. Vereinfacht gesagt fragen qualitativ Forschende nach dem Warum und wollen menschliches Verhalten und soziale Zusammenhänge im Detail verstehen. Beim Thema Kinderwunsch interessiert sie zum Beispiel, weshalb sich jemand ein Kind wünscht. Dagegen setzen Anhänger von quantitativen Mitteln auf messbare Grössen, um herauszufinden, wie weit ein Phänomen verbreitet ist. Sie interessiert beispielsweise, wie viel Prozent der Bevölkerung sich Kinder wünschen.

Beide Ansätze haben Stärken und Schwächen. So werfen Kritikerinnen der quantitativen Forschung vor, dass deren standardisierte Erhebungsmethoden zu unflexibel seien und nicht auf individuelle Unterschiede und Erklärungsmuster eingingen. Umgekehrt wird der qualitative Ansatz häufig als wenig repräsentativ, zu subjektiv oder gar unwissenschaftlich kritisiert.

Mischung erhöht Gesuchschance

Ein Versuch, genau diesen Graben zu überbrücken, ist die Kombination von qualitativem und quantitativem Vorgehen im selben Forschungsprojekt. «Mixed Methods werden seit einigen Jahren immer häufiger angewendet», sagt Manfred Max Bergman, Professor für Sozialforschung und Methodologie an der Universität Basel. Das hat unter anderem mit der Verteilung von Geldern zu tun. «Aus forschungspolitischer Sicht soll der Methodenmix die beiden Lager miteinander versöhnen», erklärt Bergman, der auch Mitglied des Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds ist. Oft schätzten es Gutachter bei Projektanträgen, wenn qualitative Ansätze mit quantitativen ergänzt werden und umgekehrt. Diese Erfahrung hat auch Stefan Huber gemacht, Leiter des Instituts für Empirische Religionsforschung an der Universität Bern. «Gesuche, die beide Methoden integrieren, haben bessere Chancen, bewilligt zu werden», glaubt er.


Wie viel junge Männer arbeiten (wollen)

Rund 6000 junge Erwachsene in der Schweiz werden bei ihrem Übergang ins Berufs- und Erwachsenenleben begleitet. Von den Abgängerinnen und Abgängern der obligatorischen Schule wurde eine Stichprobe genommen und diese wird seither regelmässig befragt. In der Grafik (unten) ist die Auswertung von neun Befragungen zwischen 2001 und 2014 zum Beschäftigungsgrad von jungen Männern und Frauen zu sehen. Aus den Teilnehmenden werden häufig repräsentative Gruppen für qualitative Forschungsprojekte gewählt. Die Zitate (ganz unten) stammen aus 48 problemzentrierten Interviews, mit denen die Verknüpfung von Berufs- und Familienvorstellungen bei 30-jährigen Männern untersucht wurde.

Infografik: Bodara GmbH; Quellen: TREE-Studie, Diana Baumgarten et al.: «Wenn Vater, dann will ich Teilzeit arbeiten». Gender 2016


Doch nicht nur finanzielle, auch inhaltliche Gründe erklären die Beliebtheit von Mixed Methods: «Diese können aussagekräftigere Forschungsergebnisse liefern und die Komplexität von Systemen besser abbilden», sagt Bergman, der zum Thema diverse Artikel und Bücher publiziert hat. So können Erkenntnisse aus einzelnen Beobachtungen oder Interviews dazu dienen, eine Hypothese zu entwickeln, die dann mittels einer statistischen Erhebung überprüft werden kann. Umgekehrt lassen sich quantitative Forschungsergebnisse vertiefen, etwa indem man aus einer grossen Längsschnittstudie einzelne Probanden herauspickt und detailliert befragt.

Ein Beispiel dafür ist Stefan Hubers Forschungsprojekt zu «nicht religiösen» Menschen in der Schweiz. Um mehr über diese Gruppe zu erfahren, nutzte er Daten des sogenannten Religionsmonitors der deutschen Bertelsmann Stiftung, einer grossen Fragebogenerhebung, die auch die Schweiz berücksichtigte. Nach drei Befragungswellen – 2007, 2013 und 2017 – belegt sie, dass die Zahl der «Nichtreligiösen» steigt. Aus diesen wählten Huber und sein Team einzelne Personen aus, mit denen sie vertiefte Interviews führten. Dabei zeigte sich: «Auch wenn sie nicht an Gott glauben oder in die Kirche gehen, haben manche doch eine Art Spiritualität», sagt Huber. Sie erzählten zum Beispiel, dass sie meditieren und sich manchmal mit allem eins fühlen. «Durch eine rein quantitative Untersuchung wäre uns diese differenzierte Sichtweise entgangen.»

«Oft werden Studien als Mixed-Methods-Studien bezeichnet, die eigentlich gar keine sind.»

Um einen Mehrwert zu bieten, sei es allerdings wichtig, dass Projekte von Anfang an so konzipiert werden, dass qualitative und quantitative Methoden ineinandergreifen und sich aufeinander beziehen. Doch genau hier liegt das Problem, wie auch Bergman bestätigt: «Oft werden Studien als Mixed-Methods-Studien bezeichnet, die eigentlich gar keine sind.» So komme es vor, dass qualitativ und quantitativ Forschende zwar im selben Projekt zusammenarbeiten, doch jeder mit seinem eigenen Ansatz und ohne die Ergebnisse miteinander zu verknüpfen.

Eine Hürde ist dabei die Spezialisierung der Forschenden: «Für eine gute Mixed-Methods-Studie braucht es Methodenkenntnisse in beiden Bereichen», sagt Bergman. Doch viele Forschende in den Sozialwissenschaften beherrschen nur qualitative oder nur quantitative Arbeitsweisen. Das bestätigt Véronique Mottier, Soziologieprofessorin an der Universität Lausanne. Um künftige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in beiden Bereichen zu schulen, wurde an der Uni Lausanne 2013 eine umfassende Lehrreform durchgeführt: Alle Studierenden der Sozial- und Politikwissenschaften müssen seither bereits im Grundstudium Pflichtveranstaltungen in quantitativen, qualitativen und gemischten Methoden belegen.

Mottier betont, dass keine Methode besser sei als die andere. «Welche man anwendet, sollte ausschliesslich davon abhängen, welche Forschungsfrage man beantworten will.» So kann es sinnvoller sein, eine rein qualitative statt einer Mixed-Methods-Studie durchzuführen. Etwa dann, wenn man herausfinden will, welche subjektiven Erfahrungen Einzelpersonen während des Corona-Lockdowns gemacht haben. Ein Mix wäre hingegen dann sinnvoller, wenn man gleichzeitig wissen will, wie die soziale Klasse oder das Geschlecht diese subjektiven Erfahrungen beeinflusst haben.

Methoden zu trennen, ist künstlich

Auch wenn der Methodenmix derzeit hoch im Kurs steht, ist er an sich kein neues Phänomen. Sozialforschende kombinierten schon Anfang des 20. Jahrhunderts ganz selbstverständlich qualitative und quantitative Ansätze, zum Beispiel in der sogenannten «Marienthalstudie». Erst ab den 1950er-Jahren entwickelte sich der Methodenstreit, der die Ansätze als inhärent verschieden definierte. «Die entstandene Trennung ist künstlich und unproduktiv», sagt Mottier. Deshalb sieht sie die Wiedervereinigung als eine positive Entwicklung.

«Am Schluss hat man noch einmal eine andere Brille auf und sieht dadurch klarer als vorher.»

Mixed-Methods-Projekte sind allerdings aufwändiger, weil das Forschungsdesign komplexer und die Kommunikation anspruchsvoller wird. Dennoch lohnt sich der Aufwand, findet Diana Baumgarten, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschlechterforschung der Universität Basel, die als qualitativ Forschende bereits in mehreren Projekten mit quantitativ Forschenden zusammengearbeitet hat. Immer wieder sei es ein Ringen um gegenseitige Anerkennung, aber man lerne viel voneinander. Und der Erkenntnisgewinn sei grösser: «Am Schluss hat man noch einmal eine andere Brille auf und sieht dadurch klarer als vorher.»

Ganz neuer Blick auf Arbeitslosigkeit
Die Marienthalstudie von 1933 untersuchte die Auswirkungen lang anhaltender Arbeitslosigkeit in einer Arbeitersiedlung bei Wien und gilt heute als Meilenstein in der Sozialforschung. Denn die Forschenden verwendeten eine eindrückliche Vielfalt an Methoden. Dazu zählten qualitative Ansätze wie teilnehmende Beobachtungen und Gespräche bei Hausbesuchen ebenso wie quantitative, darunter die Auswertung statistischer Bevölkerungsdaten oder die Erfassung des Zeitbudgets der Arbeitslosen. Die Studie kam übrigens zum Schluss, dass Langzeitarbeitslosigkeit nicht zur Revolte führt – wie man bisher angenommen hatte –, sondern zu Hoffnungslosigkeit und Passivität.