Übersteilte Talflanken und zermürbte Felswände: Die schroffe und zerfurchte Grünbergkette im Grimselmassiv ist das Resultat einer 300 Millionen Jahre alten Geschichte. | Bilder und Grafik: Marco Herwegh. Porträt: Fritz Schlunegger

«Über Zugangsstollen konnten wir kilometerweit in den Berg hineinfahren. An den Tunnelwänden sahen wir kleine Risse und Spalten, aus denen Wasser tropfte. Wir hatten einen relativ überschaubaren Auftrag: die Strukturen einer rund zehn Kubikmeter grossen Nische im Nagra- Felslabor Grimsel kartieren. Auf der Fahrt hatten wir nur eine vage Ahnung, was uns alles im Detail erwartet. Erst recht konnte ich nicht voraussehen, dass ich tief drinnen im Aarmassiv von einer kleinen Nische aus starten würde, um zu neuen Erklärungen der Entstehungsgeschichte des ganzen Massivs zu kommen. Heute können wir das Wissen aus den Tiefen des Berges mit oberflächennahen Naturgefahren und sogar neuen Erkenntnissen zur Geothermie verknüpfen.

Millionen Jahre zum ‹Ghüdderhaufen›

Zwölf Jahre habe ich in enger Zusammenarbeit mit meinem Team gebraucht, um die Berge im oberen Haslital einigermassen lesen zu können. Gebildet haben sich die vermeintlich kompakten, riesigen Felskörper vor rund 300 Millionen Jahren in der mittleren Erdkruste. Erst vor rund 20 Millionen Jahren begannen sich die Alpen zu bilden und das Aarmassiv bei erhöhtem Druck und Hitze zu heben. Die Strukturen der heutigen Felsformen wurden damals in diesen Tiefen tektonisch vorkonditioniert und mit einem engen Netz von verformbaren Störungszonen durchzogen: Vieles, was wir heute in den schroffen Felswänden sehen, entstand weit unter Grund. Doch schon auf dem Weg an die kühle Oberfläche hat sich das Verhalten der Verformung geändert. Der vormals heisse und weiche Granit wird hart und das Rätsel nur noch komplizierter. Übrig geblieben ist eigentlich nur ein riesiger, in Scheiben und Blöcke zerbrochener ‹Ghüdderhaufen›.

Alle diese Faktoren wirken dort am meisten, wo der Berg am schwächsten ist: in Bruchstellen und Klüften. Deshalb haben wir uns mit verschiedenen Methoden auf die Suche danach gemacht. Gefunden haben wir im Grimselmassiv über 30 000 Lineamente. Diese Risse sind an der Erdoberfläche zu sehen, doch in der schieren Anzahl kaum zu erfassen. Deshalb haben wir die Spuren auf Flugbildern gesucht, vor Ort überprüft und mit dem Computer hoch aufgelöste Modelle berechnet. Diese zeigen nicht nur die Oberfläche, sondern prognostizieren Bruchstellen auch ins Erdinnere hinein. Mit diesen Informationen können wir nun verstehen, warum am Nordrand des Aarmassivs Berge bis viertausend Meter hoch sind. Gletscher und Wasser haben in vergangenen Jahrtausenden dazu beigetragen, dass die Bergbastionen heute noch schroffer in den Himmel ragen. Das Wegschmelzen der Gletscher legte die übersteilten Talflanken der spröden Felsen frei. Gleichzeitig zermürben Wasser und grosse Temperaturunterschiede das Gestein weiter. Das sind ideale Voraussetzungen, dass die Schwerkraft wirken kann und Fels- und Bergstürze vorantreibt. Eine dritte Naturgefahr sind Murgänge, die als Folge des schwindenden Permafrosts und nach starken Niederschlägen ins Tal donnern.

«Wir haben die Spuren auf Flugbildern gesucht.»

Es bedeutet mir sehr viel, wenn wir dank unserer Forschungsarbeit den Ingenieurgeologen genauere Grundlagen schaffen. Damit können sie Bevölkerung und Infrastruktur in den Bergen besser schützen. Es ist faszinierend, wie unsere Grundlagen konkrete Anwendungen finden. Die Modellierungen der Spalten und Brüche erlaubt uns ausserdem viel genauere Berechnungen der unterirdischen Wasserflüsse. Es ist kein Zufall, dass im zerklüfteten Grimselgebiet die höchstgelegene heisse Quelle Europas zu finden ist. Nun müssen wir uns daranmachen, diese Energie zukünftig auch zu nutzen. Doch dazu mussten wir den Berg erst richtig lesen lernen.»

Alte Strukturen, neue Energien

Porträt: Fritz Schlunegger

Marco Herwegh ist Professor für Strukturgeologie an der Universität Bern. Der Präsident der Naturforschenden Gesellschaft in Bern hat am Massachusetts Institute of Technology in Boston und an der University of Western Australia geforscht. Heute arbeitet Herwegh mit seiner Gruppe auch im Unesco- Welterbe «Tektonikarena Sardona».

Aufgezeichnet von This Rutishauser.

Vortrag «Neues vom Geothermiefeld Grimsel»: 1. Dezember 2017