Schädel wie diese aus dem Naturhistorischen Museum in Basel sollten die Erinnerung an indigene Bevölkerungen bewahren und vor der Koloniesierung schützen. So sahen es die Sammler vor 100 Jahren. Heute verlangen die Nachfahren deren Repatriierung. | Bild: Valérie Chételat

In den Akten wird er «Sammler» genannt. Allerdings hatte er nur sein Reisekochgeschirr dabei, und das ist keine professionelle Ausrüstung für einen, der eine menschliche Leiche skelettieren will. Doch seinen Mühen verdankte die Naturforschende Gesellschaft Basel den «weitaus wertvollsten Zuwachs» ihrer völkerkundlichen Sammlung im Jahr 1914, wie sie im Bericht über jenes Jahr schreibt: «zwei vollständige Skelette, ein männliches und ein junges weibliches, von Feuerländern, Alakaluf von der Westküste der Insel Santa Inés».

Die Insel liegt an der Südspitze Südamerikas und gehört zu Chile. Dort soll der ansonsten unbekannt gebliebene Reisende eine Bestattung beobachtet und die Leichen umgehend ausgegraben haben, bevor er sie dann «stückweise in seiner Reisepfanne ausgekocht» habe, so der Jahresbericht. Übrig blieben Knochen und Schädel. Diese ruhen heute in der anthropologischen Sammlung des Naturhistorischen Museums Basel.

Ein Ausnahmefall, wie Pierre-Louis Blanchard feststellt. Der studierte biologische Anthropologe arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Assistent am Zürcher Museum Rietberg. In seiner Dissertation «Collecting Humanity» am Kulturwissenschaftlichen Institut der Uni Luzern untersucht er die Geschichte menschlicher Überreste aus der Frühzeit der Basler Sammlung, ebenso jener des Muséum national d’histoire naturelle in Paris.

100 Jahre später folgt die Kontroverse

Es geht um die Zeit zwischen 1905 und 1918; um den wissenschaftshistorischen Kontext der Anthropologie, die an den Sammlungen beteiligten Institutionen und Akteure sowie die Herkunft exemplarischer Objekte. Das Aussergewöhnliche an den Skeletten von Santa Inés war laut Blanchard nicht, dass auf ein Grab zugegriffen wurde: «Exhumierungen waren damals eine verbreitete Methode, um menschliche Überreste für die Anthropologie zu gewinnen.» Auch Fritz und Paul Sarasin, Gründerväter der Basler Sammlung, beschafften in Sri Lanka und Sulawesi Knochen aus Gräbern, teils hinter dem Rücken der Einheimischen. Aussergewöhnlich war der Zeitpunkt, zu dem auf das Grab zugegriffen wurde: Es sei «sehr selten» gewesen, frische Leichen auszugraben ‒ und nicht bereits verweste.

Ein Jahrhundert später meldet sich das ethische Unbehagen. Menschliche Überreste in Sammlungen sind problematisch geworden: Restitutionsforderungen haben Kontroversen über das Erbe der frühen Anthropologie angestossen. 2011 kam es zu einer aussenpolitischen Krise zwischen Deutschland und Namibia. Herero-Gebeine in deutschen Sammlungen rührten unmittelbar an die Frage des Völkermords in der ehemaligen Kolonie.

Dazu kämen, erklärt Pierre-Louis Blanchard, veränderte Sensibilitäten im Verhältnis zum Tod und zu den Toten. Damals hätten die anthropologischen Lehrbücher praktische Anleitungen für Exhumierungen gegeben. Sogar der Umgang mit Menschenfleisch sei offenbar «nicht problematisch» gewesen. Die Basler Naturforschende Gesellschaft jedenfalls machte die Umstände, denen sie die Skelette der beiden «Feuerländer» verdankt, in ihrem Jahresbericht umstandslos publik ‒ und es war kein Thema, ob diese Umstände legal oder legitim waren.

«Exhumierungen waren eine verbreitete Methode.»Pierre-Louis Blanchard

Zugleich hätten sich die Sammler aber nicht nur der Wissenschaft verpflichtet gesehen, erklärt Blanchard, sondern auch den betroffenen indigenen Bevölkerungen: Die Sammler wähnten sie durch die Moderne und die Kolonisierung bedroht, und sie wollten ihnen einen Platz in der Menschheitsgeschichte bewahren ‒ mit ihren kulturellen, aber auch ihren biologischen Zeugnissen. Genau darum waren die Gebeine von Santa Inés für die Basler derart «wertvoll»: als «Reste eines hoffnungslos dahinschwindenden Stammes», so die Naturforschende Gesellschaft.

Ethische Bedenken beträfen lediglich Teile der beiden Sammlungen, betont Blanchard. Und wo es sie gibt, bedeutet historische Erkenntnis noch kein Urteil in den Fragen von heute. Blanchard will mit seiner Forschung zu jener «Grundlage» an Wissen beitragen, die in der Debatte oft fehlt: woher die Gebeine stammen und unter welchen Umständen sie in die Sammlung gelangt sind. «Viele Objekte sind schlecht dokumentiert, und viele Museen haben sich bisher nur defensiv mit der Problematik auseinandergesetzt.» Das Naturhistorische Museum Basel unterstützt Blanchards Arbeit. Sie sei Teil eines längerfristig angelegten Programms zur Provenienzforschung, erklärt Gerhard Hotz, der Zuständige für die anthropologische Sammlung.

Wie nahe er mit seiner historischen Arbeit an der Gegenwart operiert, das hat Blanchard in Paris erfahren. Seit 1909 liegt im Nationalmuseum für Naturgeschichte der Schädel eines gewissen Mamadou-Lamine, Anführer von Einheimischen und Opfer eines Kolonialkriegs in Französisch-Sudan, heute Mali. Durch seine Nachforschungen bekam Blanchard Kenntnis einer Petition aus Mali, die die Repatriierung des Schädels verlangt. Das Anliegen hatte ihn noch vor den Verantwortlichen im Museum erreicht. Der Ausgang des Falls ist offen.

Daniel Di Falco ist Historiker und Journalist beim «Bund» in Bern.