Terence Karrans Arbeiten bewirkten eine Änderung der dänischen Gesetze. Bild: Neil Baker

Terrence Karran schlug 2009 die Einführung einer allgemeinen Vereinbarung vor, welche die akademische Freiheit definiert und schützt – eine «Magna Carta» der Rechte der Forschenden. Der britische Sozialwissenschafter wird am 8. Dezember 2017 in Bern an der Konferenz «Academic Freedom: A universal right at stake!?» sprechen.

Auf den ersten Blick scheint Europa kein grosses Problem mit der akademischen Freiheit zu haben. Braucht es wirklich eine europaweite Vereinbarung?

Tatsächlich schützen die meisten europäischen Staaten die akademische Freiheit, entweder in ihrer Verfassung oder über das Recht auf freie Meinungsäusserung. Aber ich würde sie als umstrittenes Konzept bezeichnen, weil verschiedene Staaten eine unterschiedliche Auffassung vertreten. Im Vereinigten Königreich beispielsweise ist das Recht vernachlässigt, weil wir keine Verfassung haben und nicht einmal die freie Meinungsäusserung geschützt ist. Eine Magna Carta würde einen Rahmen festlegen.

Wissen entsteht aus der Vermutung, dass der Status quo irgendwie falsch ist. Akademische Freiheit ermöglicht es den Akademikern, aufzustehen und zu sagen: «Ich weiss, dass wir das bisher so sahen. Aber ich glaube, es ist falsch.» Deshalb ist diese Freiheit wichtig.

Wovon wurden Sie inspiriert?

In den USA hat die American Association of University Professors das Red Book: Dieses definiert die akademische Freiheit und bietet Richtlinien zu ihrer Wahrung. Sie geniesst in den Vereinigten Staaten den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäusserung, allerdings nur in öffentlichen Universitäten. Private Universitäten könnten diese, wenn sie wollten, völlig ausser Acht lassen. Das Red Book wurde geschaffen,
um die akademische Freiheit in diesem Umfeld zu schützen. Private Einrichtungen wie Harvard oder Yale unterzeichnen es freiwillig.

Weshalb sollten sich Universitäten ohne rechtlich bindende Dokumente an eine Vereinbarung halten?

Ich habe kürzlich eine Arbeit über internationale Rankings von Universitäten und den Schutz der akademischen Freiheit an Universitäten abgeschlossen. Es zeigte sich, dass Universitäten, die sie schützen, mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Rankings gut abschliessen. Akademische Freiheit ist also sozusagen ein Massstab für die Qualität von Forschung und Lehre an einer Universität. Aus diesem Grund halten sich die Universitäten an eine Vereinbarung.

Sie haben vorher gesagt, dass Ihr eigenes Land, Grossbritannien, akademische Freiheit als Recht vernachlässigt.

Ja, wir haben der Universities and Colleges Union dazu im Mai 2017 einen Bericht unterbreitet. Die Ergebnisse verglichen wir mit dem übrigen Europa, und es zeigte sich, dass die akademische Freiheit in Grossbritannien wegen der fehlenden Verfassung sehr schlecht geschützt ist. Einige Ergebnisse zeigen, dass ein grosser Teil der Forschenden vor kritischen Äusserungen Angst hat, weil sie Repressionen befürchten.

Von der Regierung? Oder meinen Sie die Öffentlichkeit?

Von anderen Forschenden. Die Ergebnisse überraschten. Sie zeigten klar, dass viele Verletzungen der akademischen Freiheit von anderen Akademikern ausgingen, nicht vom Management. Das ist die Situation. Es gab ausserdem Probleme im Zusammenhang mit der akademischen Freiheit von Studierenden, ein noch wenig erforschtes Gebiet. In Europa ist die freie Meinungsäusserung auf dem Campus ein ernst zu nehmendes Problem.

«Viele Verletzungen der akademischen Freiheit gehen von anderen Akademikern aus, nicht vom Management.»

Wie könnte die Magna Carta dies ändern?

Sie würde bestimmte Rechte festlegen, namentlich das Recht auf freie Meinungsäusserung, das auf die eine oder andere Weise ausgelegt werden kann. In den USA wird dieses Recht zum Beispiel vom Obersten Gerichtshof interpretiert. Aufgrund solcher Interpretationen kann sich die akademische Freiheit im Laufe der Zeit verändern. Das Verbrennen der amerikanischen Flagge wurde beispielsweise früher als freie Meinungsäusserung gesehen, später aber als unakademisch beurteilt und verboten.

Sollte damit die akademische Freiheit vor einer übereifrigen Political Correctness geschützt werden?
Akademische Freiheit ist eine Freiheit bei der Berufsausübung in Lehre und Forschung, und die Magna Carta möchte diese bewahren. Die Ansicht eines Forschers sollte eigentlich nur dann ein Problem sein, wenn er in der Lehre seine Meinung zu Themen äussert, die nichts mit seinem Gebiet zu tun haben. Es wäre für einen Chemiker völlig unangebracht, in seiner Vorlesung festzustellen: «Donald Trump ist der schlechteste Präsident, den ich je gesehen habe.» Etwas anderes wäre es, wenn ein Professor für Politikwissenschaft sagt: «Viele glauben, dass Donald Trump ein schlechter Präsident ist.» Es gibt hier einen subtilen Unterschied, und die Magna Carta könnte sich damit befassen.

Gibt es Länder, in denen bereits ein guter Schutz besteht?

In Ländern wie Österreich, Bulgarien und Kroatien ist die akademische Freiheit in der Verfassung verankert. Dänemarks Verfassung erwähnt die Freiheit der Forschung und des künstlerischen Schaffens. In anderen Ländern ist das Privileg durch eine spezifische Gesetzgebung geschützt. In Irland beispielsweise schützt ein Universitätsgesetz von 1997 diese Freiheit. Mit der Magna Carta wüssten Akademiker, dass ihre grundsätzlichen Freiheiten geschützt sind, egal, ob sie sich in den Niederlanden, Portugal oder Rumänien aufhalten. Dadurch könnten sie auch freier den Arbeitsort wechseln.

Erhielte die Wissenschaft dadurch eine stärkere Stimme?

Wenn Akademiker nicht zu befürchten haben, dass eine Äusserung negative Folgen hat, würden sie eher ihre Stimme erheben. Das wiederum wäre der Schaffung neuen Wissens förderlich. Wenn Europa eine Wissensgesellschaft auf der Basis der Erzeugung und Nutzung von Forschungsergebnissen werden will, sollte der ganze Kontinent eher mehr als weniger akademische Freiheit anstreben.

Mehr Forschungs-Output bedeutet auch mehr Interesse seitens der Privatindustrie. Wie würde Ihre Magna Carta mit dem Schutz geistigen Eigentums und dem Betriebsgeheimnis umgehen?

Das ist schwierig abzuschätzen. Sobald Wissen wirtschaftlich relevant wird, drängen Unternehmen natürlich auf Verträge mit den Universitäten, die sicherstellen sollen, dass Ergebnisse in Zusammenhang mit geistigem Eigentum nicht weitergegeben werden. Ich würde nicht sagen, dass Universitäten bestochen werden, aber die Industrie stellt ziemlich aktiv hohe Forschungsgelder bei einer Zusammenarbeit in Aussicht. Bei Forschung mit grossem Ertragspotenzial versuchen die Unternehmen logischerweise, die Kontrolle zu übernehmen. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Druck bei der Entwicklung hin zu einer Wissensökonomie zunimmt. Das macht den Schutz der akademischen Freiheit zu einem noch vordringlicheren Anliegen.

Es gibt bereits ähnliche Chartas, zum Beispiel von der Unesco …

Ja, die Unesco hat eine Empfehlung zum Status von Lehrpersonen in der höheren Bildung und zum Schutz der akademischen Freiheit herausgegeben. Die meisten Länder Europas haben dieses Dokument unterzeichnet. Die Idee solcher Dokumente ist es, dass sich die Inhalte durch die Unterzeichnung von Regierungen und Einrichtungen etablieren und dass sie schliesslich in die Gesetzgebung aufgenommen werden. Es gibt verschiedene Instrumente, die rechtlich auf wackligen Beinen stehen, aber weil sie schon so lange befolgt wurden, werden sie weiterhin eingehalten. Die Unesco-Charta wird aber regelmässig missachtet.

In welcher Weise?

In Dänemark zum Beispiel wurde 2009 die Gesetzgebung zur höheren Bildung angepasst. Es wurde ein hierarchisches System von Managern und Ausschüssen mit externen Mitgliedern eingeführt, und der Lehrkörper verlor an Einfluss. Der dänische Verband der Universitäten reichte bei der Unesco die Beschwerde ein, dass die Freiheit nicht mehr gewährleistet sei. Die Regierung musste das Gesetz durch eine internationale Kommission prüfen lassen, und das Gesetz wurde schliesslich geändert. Dies zeigt, dass es möglich ist, die akademische Freiheit durch Richtlinien zu verbessern, es ist aber sehr schwierig.

Von Mexiko nach Grossbritannien
Terence Karran ist Professor am College of Social Science der University of Lincoln in Grossbritannien. Er arbeitete zuvor als Leiter des Bereichs Fernstudien der Autonomen Universität von Guadalajara in Mexiko.
Die schweizerische Bundesverfassung schützt die akademische Freiheit
«Die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung ist gewährleistet», hält Artikel 20 der schweizerischen Bundesverfassung fest. «Unser Land kann also grundsätzlich sicherstellen, dass Forschende frei arbeiten und veröffentlichen können und dass die akademische Freiheit gut geschützt ist», meint Martina Caroni, Professorin für Verfassungsrecht und Delegierte für Menschenrechte der Akademien der Wissenschaften Schweiz. «Es gibt allerdings Kontroversen um die private Unterstützung von Professuren und Forschungsprogrammen.» Hier solle mehr getan werden, um die Unabhängigkeit gegenüber den Geldgebern und die öffentliche Unterstützung zu erhalten, sagt die Verfassungsrechtlerin.

Inga Vesper ist freie Journalistin und leitende Redaktorin bei Research Europe. Sie lebt in London.

T. Karran: Academic Freedom in Europe: Time for a Magna Charta? Higher Education Policy (2009)