Wenn Philosophen Hypothesen formulieren, sind diese natürlich nicht ganz leicht empirisch zu testen, erklärt Erkenntnistheoretiker Jan Sprenger. | Foto: Bea De Giacomo

Jan Sprenger, Sie beschäftigen sich philosophisch mit Objektivität und Subjektivität in der Forschung: Wer persönliche Erfahrung mit dem eigenen Forschungsobjekt hat, sollte worauf unbedingt achten?

Wir unterscheiden in der Wissenschaftsphilosophie zwischen zwei Dimensionen: Beim Generieren einer Hypothese sind persönliche Erfahrungen oder Perspektiven zulässig. Die Bewertung der Hypothese nach den erbrachten Evidenzen muss aber aufgrund von in der Disziplin üblichen Standards geschehen. Die eigenen Erfahrungen sollten zudem nicht als Evidenz benutzt werden, um bestimmte Theorien zu bestätigen. Und man muss natürlich aufpassen, dass sie das Urteil nicht trüben.

Es kommt also darauf an, in welchem Stadium der Erkenntnisgewinnung die persönliche Erfahrung einfliesst.

Ja. Das gilt übrigens auch für die eigene Weltanschauung.

Wie objektiv denken denn Sie selbst über Objektivität nach?

Na ja, wenn wir Philosophen Hypothesen formulieren, sind diese natürlich nicht ganz leicht empirisch zu testen. Wir versuchen vielmehr Begriffe wie eben Objektivität zu erklären, indem wir beschreiben, welche Funktion diese im wissenschaftlichen Diskurs hat. Dann argumentieren wir, warum der eine oder der andere Ansatz aussichtsreicher ist.

So objektiv wie möglich

Jan Sprenger ist Professor für Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität von Turin. Sein Fokus liegt auf erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Bis 2021 hat er das europäische Forschungsprojekt «Making Scientific Inferences More Objective» geleitet. Dieses hatte zum Ziel, die Objektivität statistischer, kausaler und erklärender Schlussfolgerungen besser zu verstehen.

Wie funktioniert Objektivität in den Sozialwissenschaften und wie in den Naturwissenschaften?

Naturwissenschaften haben es leichter, weil sie über mehr und über erfolgreichere quantitative Theorien verfügen. Mit diesen können sie präzise Vorhersagen machen, die sie wiederum genau testen können. Ein Beispiel aus der Physik: Aufgrund der Bahnabweichungen des Planeten Uranus konnte die Position von Neptun erfolgreich vorhergesagt werden. Die Naturwissenschaften haben im Zweifelsfall zudem das Labor, wo sie ein Experiment, etwa zur Thermodynamik, ohne relevante Einflüsse von aussen durchführen können. In den Sozialwissenschaften ist es viel schwieriger, weil es um komplexe Systeme mit einem Netzwerk von kausalen Einflüssen geht, die sich nicht so einfach abschirmen lassen.

Zum Beispiel?

Wie kommt Rassismus zustande? Das ist kaum im Labor zu testen. Und es gibt sehr viele Einflüsse, die mitwirken. Natürlich gibt es auch in den Sozialwissenschaften Experimente im Labor zu spezifischen Fragen wie etwa: Wie sehr vertrauen Menschen einander, wenn es ums Geld geht? Da bleibt aber offen, wie sich diese Idealisierungen nachher auf die Gesellschaft übertragen lassen.

Wie wird Objektivität also konkret in der Forschungsarbeit hergestellt?

Das ist vielschichtig. Zwei Grundideen sind jedoch vorherrschend: Die einen berufen sich auf das Produkt der Forschungsarbeit. Zum Beispiel wird ein Befund eines Experiments als objektiv angesehen, wenn er von verschiedenen Forschenden zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten unabhängig voneinander repliziert werden kann. Andere betonen den Prozess, mit dem persönliche Voreingenommenheit aus der empirischen Arbeit herausgehalten werden kann. Wenn wir in der Wissenschaft über Objektivität reden, ohne sie zu spezifizieren, meinen wir meistens eine, in der sich diese beiden Ideen überlappen. Die Unterscheidung zwischen Produktobjektivität und Prozessobjektivität halte ich jedoch für wichtig.

«Es ist unmöglich, zum Beispiel einen Datensatz zu analysieren, ohne dass man gewisse Annahmen macht.»»
Das ist ziemlich abstrakt.

Richtig. Mich interessiert beim Objektivitätsbegriff allerdings besonders, wie er in der täglichen Praxis der Forschung nützlich sein kann. Bleiben wir dafür beim Prozessaspekt. Dort, wo es nicht möglich ist, Werte aus den wissenschaftlichen Argumentationen oder aus der Datenanalyse herauszuhalten, sollten Forschende sie transparent machen. Das kann zum Beispiel die Auswahl der getesteten Hypothesen betreffen oder die ihnen zugewiesenen Wahrscheinlichkeiten. Die Forschenden können ausserdem zeigen, ob die Schlussfolgerungen aus einem Experiment sich ändern würden, wenn sie andere Voraussetzungen gemacht hätten.

Kann so gesehen Subjektivität überhaupt vermieden werden?

Es ist unmöglich, zum Beispiel einen Datensatz zu analysieren, ohne dass man gewisse Annahmen macht, zum Beispiel welche Faktoren das Vertrauen der Menschen zueinander beeinflussen und welche nicht. Dabei ist subjektives Urteil also unerlässlich. In der sogenannten Bayes-Statistik sind diese subjektiven Elemente deshalb expliziter Bestandteil des wissenschaftlichen Schlussfolgerns, indem Hypothesen subjektive Wahrscheinlichkeiten zugewiesen werden, deren Wert sich im Lichte der experimentellen Befunde allenfalls verändert. In der klassischen Statistik dagegen spricht man gar nicht von der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese. Es geht nur darum, wie gut oder schlecht die Nullhypothese eines fehlenden kausalen Zusammenhangs die Daten erklärt. Das ist der Standard, von dem man ausgeht. Jegliches subjektive Urteil wird als nicht zur Wissenschaft gehörig abgetan.

Warum ist das ein Problem?

Diese Standardisierung führt unter anderem dazu, dass bei statistischer Forschung am Ende nur die sogenannten signifikanten Resultate publiziert werden, also diejenigen, die einem bestimmten P-Wert entsprechen. Diese Kennziffern ermöglichen aber nur die Aussage, dass Daten wahrscheinlich nicht zufällig zustande gekommen sind. Um es mit einem Beispiel zu erklären: Wenn in einem grossen Experiment mit 100 000 Patienten ein Medikament auch nur minimal besser abschneidet als ein Placebo, dann ist der Befund aufgrund der sehr grossen Stichprobe fast sicher statistisch signifikant. Das sagt aber nichts darüber aus, ob dieses Medikament tatsächlich einen Beitrag zur Bekämpfung der Krankheit liefert. Seit ein paar Jahren gibt es deswegen eine Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass man sich nicht mehr ausschliesslich auf P-Werte verlässt. Aber das war vorher über Jahrzehnte der dominante Ansatz und hat viel Schaden angerichtet.

«Wenn man Objektivität als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit versteht, dann kann Wissenschaft das nicht immer gewährleisten.»
Ist Objektivität überhaupt etwas Gutes?

Dank ihr wird der Wissenschaft vertraut und ist sie im gesellschaftlichen Diskurs relevant. Wenn man die Prozessobjektivität als Ausgangspunkt nimmt, also in erster Linie die persönliche Voreingenommenheit möglichst raushalten möchte, ist die Idee zudem nicht mit zu hohen Erwartungen verbunden. Wenn man Objektivität jedoch als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit versteht, dann kann Wissenschaft das nicht immer gewährleisten. Dafür ist sie viel zu komplex.

Wäre dieser Anspruch noch eine neue Dimension von Objektivität? Neben der Prozess- und der Produktobjektivität?

Objektivität als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist natürlich eine alte Idee. Sie schwingt in der Idee der Produktobjektivität mit. Allerdings kann man diese Übereinstimmung schlecht direkt messen.

Was muss also zusammengefasst bei praxisnaher Kombination von Produkt und Prozessobjektivität erfüllt sein?

Es liegt eine experimentelle Arbeit zugrunde, es gibt einen hohen Grad an Reproduzierbarkeit und eine Bewertung von Theorien, die mehr durch Evidenzen als durch persönliche Überzeugungen gesteuert ist.

«Wissenschaftlicher Fortschritt in den Geisteswissenschaften ergibt sich gerade aus der Konfrontation.»
Das passt gut für die Natur- und die Sozialwissenschaften. Aber in den Geisteswissenschaften? Eine Historikerin kann eine Quelle bewusst aus der Perspektive einer bestimmten Randgruppe anschauen. Da ist die Voreingenommenheit sozusagen Methode.

Das kann durchaus sinnvoll sein, weil man damit eine bisher unbekannte Perspektive entwickelt. Es ist aber wichtig, dass man diesen Ansatz kennzeichnet. Und es genügend andere Ansätze gibt, welche die Quelle wieder aus anderer Perspektive interpretieren. Wissenschaftlicher Fortschritt in den Geisteswissenschaften ergibt sich gerade aus der Konfrontation.

Inwiefern?

In den Naturwissenschaften akzeptiert man ein Paradigma, indem man daran arbeitet. In den Geisteswissenschaften versucht man eher, das Verständnis eines bestimmten Phänomens mit konträren Deutungsansätzen zu vertiefen. In solchen Fällen stellt dann ein wissenschaftlicher Konsens einen objektiven Befund dar. Es gibt in den Geisteswissenschaften kaum allgemeine Theorien wie etwa die Newtonschen Gesetze in der Physik, die die Forschung leiten können. Sie sind viel stärker vom Studium des konkreten Einzelfalls abhängig.