Wie gut geschützt ist der Velofahrer durch all die Signale? Und wie viel Geld muss dafür ausgegeben werden? Das fliesst in die Kosten-Nutzen-Analysen von Infrastrukturprojekten im Verkehr ein. | Foto: Karin Hofer / NZZ

Wie viel ist ein Menschenleben eigentlich wert? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. Für Eltern ist das Leben ihres Kindes unvergleichlich kostbar. Aus Sicht der Gesellschaft sieht das jedoch anders aus. Hier kommt es wiederum auf den Bereich an, in dem der Wert einer Person einberechnet wird. Im Jahr 2023 lag dieser für das Bundesamt für Raumentwicklung (Are) bei 7,4 Millionen. Grundlage ist eine komplexe Berechnung (siehe Kasten unten). «Es handelt sich um eine statistische Angabe, die ausdrückt, wie viel eine Gesellschaft für die Verhinderung eines Todesfalls zu zahlen bereit ist», erklärt Joséphine Leuba, Projektleiterin beim Are.

Wie viel wir bereit sind zu zahlen, damit weniger sterben

Für die Bestimmung des Werts eines statistischen Lebens in der Schweiz nimmt das Bundesamt für Raumentwicklung (Are) die OECD-Zahlen als Grundlage. Die OECD hat in einer Metaanalyse eine Vielzahl von internationalen Studien zusammengefasst. «Dort werden die Befragten mit konkreten Entscheidungen konfrontiert, die einerseits eine leichte Reduzierung des Sterberisikos bewirken und andererseits Kosten verursachen», erklärt Joséphine Leuba.

Die Ökonomin des Are nennt als Beispiel die Renovierung eines Verkehrskreisels, die das jährliche Risiko eines tödlichen Unfalls um 0,01 Prozent senken würde. Sollen die Arbeiten realisiert werden, wenn die Kosten 700 Franken pro Steuerzahlerin betragen? Die Befragten in den Studien akzeptieren individuell unterschiedliche Kosten und Risiken. Damit lässt sich die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft in Erfahrung bringen. Werden die akzeptierten Kosten für eine Reduktion der Sterbewahrscheinlichkeit auf 100 Prozent hochgerechnet, entspricht dies dem Wert eines statistischen Lebens.

Dieser Indikator wird vom Amt seit 2004 in der Statistik über die externen Kosten und Nutzen des Verkehrs verwendet. Ausserdem fliesst der Wert in die Kosten-Nutzen-Analysen von Infrastrukturprojekten im Verkehr ein. Beispiel: Soll ein Kreisel gesichert werden? «Wenn mit einem Projekt das Todesfallrisiko gesenkt wird, dürfte es angenommen werden, auch wenn es mehr kostet», erklärt die Ökonomin. Wenn das Sterblichkeitsrisiko durch einen bestimmten Faktor mit dem Alter hingegen steigt und die Verteilung bekannt ist, wie etwa bei der Luftverschmutzung, wird eine andere Messgrösse verwendet: der Preis für ein verlorenes Lebensjahr.

Auch bei Massnahmen zum Schutz vor Naturgefahren kommt der vom Are berechnete sogenannte Wert eines statistischen Lebens zum Einsatz. «Das Risiko für Menschen wird so berechnet: Die erwartete Anzahl an Todesfällen wird mit dem Wert eines statistischen Lebens multipliziert, das Ganze ausgedrückt in Franken », erklärt Linda Zaugg-Ettlin, technische Mitarbeiterin am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). Mit dieser Umrechnung in eine finanzielle Angabe können die Risiken für Menschen und die daraus resultierenden Kosten in einer einzigen Gleichung dem Preis für potenzielle Interventionen gegenübergestellt werden.

Tot in einem von hunderttausend Fällen

Beim Beispiel Lawinen stellen sich vor einer Präventionsmassnahme zwei Fragen. Erstens: Ist sie wirksam? «Anders gesagt: Reduziert sie das Risiko auf ein akzeptables Niveau?», so Zaugg-Ettlin. Hier ist das individuelle Sterberisiko ausschlaggebend: «Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person aufgrund einer bestimmten Naturgefahr stirbt, muss kleiner als eins zu hunderttausend sein. Wenn sie höher ist, braucht es eine Intervention.»

Zweite Frage: Übersteigt der Nutzen die Kosten? «Der Nutzen einer Massnahme besteht im Schutz, den sie bietet», führt die Expertin aus. Das wird ebenfalls in Franken ausgedrückt und entspricht der Einsparung, die erreicht wird, wenn man die Risiken vor und nach der Massnahme vergleicht. Eine Massnahme gilt als effizient, wenn die erreichte Schutzwirkung grösser ist als die Kosten – inklusive Bau, Unterhalt und Betrieb. Die Umsetzung ist also wirtschaftlich gerechtfertigt.

«Es fliessen auch schwerer messbare Faktoren ein, zum Beispiel die Sicherung einer wichtigen regionalen Verkehrsachse oder die Erhaltung bedeutender Kulturgüter.»Linda Zaugg-Ettlin

Zaugg-Ettlin betont, dass die ökonomische Effizienz einer Schutzmassnahme nur einer der Aspekte ist, die das Bundesamt für Umwelt berücksichtigt: «Weitere wichtige Faktoren sind die Umweltverträglichkeit, die technischen Qualitätsanforderungen und die soziale Akzeptanz. In Letztere fliessen auch schwerer messbare Faktoren ein, zum Beispiel die Sicherung einer wichtigen regionalen Verkehrsachse oder die Erhaltung bedeutender Kulturgüter wie einer Kirche.»

Auch im Gesundheitswesen ist es unausweichlich, dem Menschenleben einen Geldwert zuzuweisen. Keine noch so reiche Gemeinschaft kann es sich leisten, alle medizinisch möglichen Behandlungen zu bezahlen. Doch wo soll die Grenze gezogen werden? Als Referenz dienen hier nicht die Angaben eines statistischen Lebens, wie sie vom Are berechnet werden, sondern ein Bundesgerichtsurteil von 2010. Das höchste Gericht der Schweiz befasste sich damals mit einem Arzneimittel für ein seltenes Leiden, nämlich gegen Morbus Pompe, eine fortschreitende, potenziell tödliche Erbkrankheit, die mit Muskelschwäche einhergeht. In seinem Urteil schrieb das Tribunal, dass «Beträge in der Grössenordnung von maximal rund 100 000 Franken pro gerettetes Menschenlebensjahr noch als angemessen betrachtet werden».

So viel Gutes wie möglich tun

«Dem Leben einen bestimmten Wert zuzuweisen ermöglicht es, mit den vorhandenen Ressourcen so viel Gutes wie möglich zu tun», erklärt Samia Hurst, Bioethikerin und Ärztin, die unter anderem das Department of Community Health and Medicine an der Universität Genf leitet. «Wenn man sich fragt, wie viel man für die Gesundheit ausgeben soll, bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder man gibt dem Leben einen Geldwert oder man geht davon aus, dass es einen unendlichen Wert hat. Im zweiten Fall gibt es keine Obergrenze für lebensrettende Ausgaben, und wir würden unsere Ressourcen schnell erschöpfen.»

Die Bioethikerin war auch Vizepräsidentin der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce der Schweiz. Wurde bei den Präventionsmassnahmen der Wert eines statistischen Lebens berücksichtigt? «Nicht direkt», sagt sie. «Man kann nicht einfach schauen, was die Präventionsmassnahmen gekostet haben, und dies den geretteten Leben gegenüberstellen. Schon deshalb nicht, weil es sehr schwierig ist, den Preis für die Massnahmen abzuschätzen. Ausserdem müsste man wissen, was es gekostet hätte, wenn nichts getan worden wäre. Doch auch das ist nicht trivial.» Und sie fügt an: «Längerfristig wirkt sich eine Epidemie verheerender auf die Wirtschaft aus als restriktive Massnahmen. Weil die Menschen krank sind, Angst haben, weniger ausgehen und weniger konsumieren.»

Krieg hat eine ganz andere Logik

Ganz anders wird der Wert des Lebens bei bewaffneten Konflikten beurteilt. «Im Krieg herrscht eine andere Logik», sagt Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor von Swisspeace. Er erinnert sich an seinen Militärdienst bei der Infanterie im Jahr 1985: «Unsere Einheit bestand aus zwanzig bis dreissig Personen. Uns wurde erklärt, dass wir im Kriegsfall alle sterben könnten, wenn wir 1,2 feindliche Panzer zerstört hätten. Das war unser kollektiver Wert. Der Staat erwartet von seinen Bürgern, dass sie bereit sind, sich für ihn zu opfern. Der Staat ist mehr wert als die Summe des Werts der Einzelnen.»

Wird der Betrag für ein Menschenleben mit dem Einzug der künstlichen Intelligenz in die Kriegsführung nun gar von Algorithmen bestimmt? «Die Algorithmen werden von Menschen festgelegt», ruft Goetschel in Erinnerung.

«Wir erleben eine eindrückliche, erschreckende Herabstufung des Werts eines Menschenlebens.»Laurent Goetschel

Dem Politologen fällt jedoch auf, dass der Unterschied zwischen zivilen und militärischen Akteuren zunehmend missachtet wird: «Noch vor Kurzem löste die Nachricht vom Einschlag einer Bombe bei einer Hochzeitsfeier Entsetzen aus. Wenn aktuell Menschen bei der Verteilung humanitärer Hilfe getötet werden, scheint dies niemanden mehr zu interessieren. Das humanitäre Völkerrecht wird mit Füssen getreten. Wir erleben eine eindrückliche, erschreckende Herabstufung des Werts eines Menschenlebens.» Und auch Goetschels weitere Beobachtung ist beängstigend: «Krieg wird mehr und mehr wieder als etwas Normales angesehen. Sobald er aber zur Normalität wird, sinkt der Wert des Einzelnen.»