Sollen Zeitzeugen im Grossformat wie dieser Kühlturm erhalten bleiben? | Foto: Aude Le Gallou

Dieser gleichsam futuristische wie von der Zeit gezeichnete Bau löst eine gewisse Desorientierung aus. Bei genauerem Hinsehen erkennt man Beton, der durch Gräser und Graffiti einen neuen Anstrich erhalten hat. Zwei Personen, ganz klein oben leicht rechts im Bild, verraten die Dimension des Bauwerks: ein riesiger Kühlturm, der zu einem fast 100-jährigen Wärmekraftwerk im belgischen Charleroi gehört. Das Foto aus der Vogelperspektive wurde beim Wettbewerb für wissenschaftliche Bilder 2025 des Schweizerischen Nationalfonds eingereicht.

Aufgenommen hat es die Geografin Aude Le Gallou von der Universität Genf. Seit bald zehn Jahren erforscht sie verlassene, oft in Vergessenheit geratene Orte in Europa und den USA, die von einer neuen Art von Tourismus, der sogenannten Urbex-Bewegung, erkundet werden. «Als ich Urbexer befragte, stellte ich fest, dass die Ruinen sehr intensive Sinnes- und Gefühlseindrücke wecken. Dank ihrer Popularisierung in den sozialen Medien erhalten sie neue Sichtbarkeit. Marginalisierte Räume werden in ein anderes Licht gerückt.»

«Es handelt sich zuweilen um wichtige Stätten des kollektiven Gedächtnisses.»Aude Le Gallou

Le Gallou, Lehrerin und Forscherin an der Universität Genf, hat ihr wissenschaftliches Feld erweitert, um sich mit dem Konzept des Geistes zu befassen, der solchen verlorenen Orten innewohnt. «Sie manifestieren eine Verflechtung der Zeiten. Man findet die Spuren einer Vergangenheit, die nur noch in Fragmenten existiert, die aber weiterhin in den heutigen Gesellschaften herumspukt», resümiert sie. Die verfallenen Bauten, die zugleich zu Oasen der Biodiversität geworden sind, werfen Fragen zum Umgang mit dem kulturellen Erbe auf.

Sollten sie erhalten bleiben, als Zeitzeugen im Grossformat, zur Freude von Reisenden und Forschenden? Oder sollen sie umgenutzt oder schlicht abgerissen werden, um einer neuen historischen Ära oder dem nächsten industriellen Abenteuer Platz zu machen? «Auch wenn es keine absolute Antwort gibt: Es handelt sich zuweilen um wichtige Stätten des kollektiven Gedächtnisses, was nicht einfach übergangen werden sollte.»