Die Lage ist ernst, und wir müssen handeln - Klimwissenschaftlerin Sonia Seneviratne setzt sich vehement für diese Botschaft ein. | Bild: Maurice Haas

Sonia Seneviratne, für den Weltklimarat, das IPCC, haben Sie drei Jahre lang Hunderte von Studien gelesen, diese zusammengefasst und über 5000 Kommentare abgearbeitet. Ein Grossteil davon in Ihrer Freizeit und unentgeltlich. Was motivierte Sie für diese Mammutaufgabe?

Etwas Nützliches für die Gesellschaft zu tun. Es ist unglaublich wichtig und dringend, den Stand der Forschung zur Klimakrise zusammenzufassen. Zudem ist die vertiefte Auseinandersetzung mit der aktuellen Literatur in meinem Fachgebiet, den Klimaextremen, natürlich inspirierend für meine eigene Forschung. Man bekommt einen breiteren Horizont und merkt, welche Fragen noch nicht vollständig beantwortet wurden. Auch wenn man vor lauter Arbeit fürs IPCC fast keine Zeit mehr hat, an eigenen Papers zu schreiben (lacht).

Welche Forschungsfragen wurden denn bislang noch ungenügend beantwortet?

Unsicherheiten und Forschungsbedarf sehe ich unter anderem bei den Kipppunkten und Kippelementen. Zum Beispiel bei der Austrocknung des Amazonas und den daraus hervorgehenden Effekten auf den Kohlenstoffkreislauf. Das macht mir grosse Sorgen. Es gab im Amazonasgebiet in letzter Zeit mehrere Dürren, gleichzeitig wurde viel Wald gerodet. Die Forschung unserer Gruppe zeigt einen starken Zusammenhang zwischen Trockenheit und Zunahme des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre. Das liegt daran, dass die Vegetation unter der Trockenheit leidet und weniger Kohlendioxid aufnehmen kann oder sogar durch Brände zusätzliches emittiert. Es könnte zu verheerenden Rückkopplungen kommen: Wenn es trockener ist, wächst weniger Wald, er kann weniger CO2 aufnehmen, die Temperatur nimmt weiter zu, mehr Wald stirbt – ein Teufelskreis.

Die Extreme verstehen
<strong>Sonia Seneviratne wurde 1974 in Lausanne geboren, studierte an der Universität Lausanne Biologie und an der ETH Zürich Umweltphysik, wo sie in Klimawissenschaft promovierte. Seit 2007 ist sie Professorin am Institut für Atmosphäre und Klima an der ETH Zürich und forscht zu Extremereignissen – unter anderem Trockenheit und Hitze – sowie dem menschgemachten Klimawandel. Dazu nutzt sie Klimamodelle und analysiert Messungen und Satellitendaten. Seneviratne hat an drei Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mitgearbeitet, zuletzt als koordinierende Hauptautorin des Kapitels zu Klimaextremen beim im August veröffentlichten sechsten Sachstandsbericht.

Zuerst sprach man vom 2-Grad-Ziel, jetzt von maximal 1,5 Grad. Weshalb macht ein halbes Grad so viel aus?

Schon jetzt sterben Menschen als Folge von Klimaextremen, das haben wir diesen Sommer gesehen. Wir können uns auch bei 1,5 Grad Erwärmung nicht in Sicherheit wiegen, aber das ist das Beste, was wir noch schaffen können. Bei 2 Grad sind die irreversiblen Schäden jedoch deutlich höher: Es würden dreimal so viele Insektenarten die Hälfte ihres Lebensraums verlieren. Bei Wirbeltieren und Pflanzen wären es doppelt so viele. Und für die Korallenriffe ist es eigentlich schon jetzt zu spät: Wenn wir es schaffen, die Erhitzung bei 1,5 Grad zu stoppen, werden zwischen 70 und 90 Prozent der Korallen sterben, bei zwei Grad wären es über 99 Prozent. Sie wären endgültig verloren.

Im vergangenen Sommer waren vor allem im Westen erstmals Millionen von Menschen persönlich von der Klimakrise betroffen. Waren Sie überrascht?

Nein, die Ereignisse stimmen mit unseren Modellvorhersagen überein. Was mich mehr überrascht hat: wie wenig wir nach wie vor an die Klimakrise angepasst sind. Bei diesen Extremereignissen sind viele Menschen gestorben, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten. Die Hitzewelle in Kanada und die Überschwemmungen in Deutschland – wir sehen nun, wie weitreichend die Auswirkungen auch für entwickelte Länder sind. Und dies bereits bei 1,2 Grad Celsius Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit.

«Das Ausmass der Herausforderung ist in den meisten Köpfen noch nicht angekommen.»

Was wären die dringendsten Massnahmen gegen die schlimmsten Schäden?

Adaptieren müssen wir uns sowieso. Der erste Schritt ist die Abkehr von den fossilen Energien. Der Verbrauch von Kohle, Erdöl und Gas muss auslaufen. Die Politik versucht immer noch, der Klimakrise mit kleinen Schritten beizukommen. In der Schweiz haben wir zwar Klimaziele vereinbart, aber anders als in der EU sehe ich bis heute kein konsequentes Handeln. Fast alle Länder verfehlen ihre Klimaziele im Rahmen des Pariser Abkommens bei weitem. Momentan steuern wir auf eine 3-Grad- Welt zu, obschon wir wissen, dass bereits 2 Grad viel zu viel sind.

Wegen der Lockdowns sanken im Jahr 2020 die globalen CO2-Emissionen um sieben Prozent. Ein Lichtblick?

Was viele Menschen nicht verstehen: Kohlendioxid akkumuliert sich in der Atmosphäre, es bleibt dort Hunderte und Tausende von Jahren. Die Kurve, welche die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre anzeigt, zeigt nur in eine Richtung: nach oben. Der pandemiebedingte Rückgang ist auf der Kurve nicht einmal ersichtlich. Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssten wir die CO2-Emissionen jedes Jahr um zusätzliche fünf Prozent reduzieren – das heisst in diesem Jahr um 12 Prozent, nächstes Jahr um 17 Prozent und so weiter. Erst dann wären wir auf Kurs. Stattdessen nehmen die Emissionen wieder zu. Das Ausmass der Herausforderung ist in den meisten Köpfen noch nicht angekommen.

«Wenn die Schweizer Nationalbank ihr Geld aus Erdöl und Kohlekonzernen zurückziehen würde, wäre dies ein wichtiges Zeichen.»

Sie fordern eine Halbierung der Emissionen bis 2030 und zwischen 2040 und 2050 überhaupt keine mehr. Wie kann ein so gewaltiger Wandel gelingen?

Durch die erwähnte Energietransformation. Und die Schweiz könnte ihre wichtige Rolle auf dem Finanzmarkt nutzen. Es gibt erste träge Bestrebungen, um Investitionen in fossile Energieträger zu reduzieren. Wir wissen heute, dass diese Sektoren keine Zukunft haben. Es wäre deshalb auch ökonomisch klug, nicht mehr in sie zu investieren. Wenn die Schweizer Nationalbank ihr Geld aus Erdöl und Kohlekonzernen zurückziehen würde, wäre dies ein wichtiges Zeichen.

Sie verteidigten angeklagte Klimaaktivistinnen, befürworten öffentlich die Gletscherinitiative. Engagieren Sie sich bewusst als Klimaaktivistin?

Die Klimajugend beruft sich auf wissenschaftliche Grundlagen, das kann ich nur unterstützen. Eine der Kernbotschaften von Fridays for Future ist: «Listen to the scientists.» Das ist berechtigt, denn wir haben etwas zu sagen: Die Lage ist ernst, und wir müssen handeln. Diese Botschaft will ich verbreiten, denn in der Politik wird oft unwissenschaftlich argumentiert. Es gibt Desinformationskampagnen. Es ist meine Verantwortung als Wissenschaftlerin, dem entgegenzuwirken.

«Wenn die Entscheidungstragenden die IPCC-Berichte nicht lesen und nichts daraus machen, dann verliere ich den Glauben an den Prozess.»

An welchen Fragen arbeitet ihre Forschungsgruppe aktuell?

Viele Szenarien für die Reduktion von Kohlendioxid basieren auf Aufforstung und Bioenergie. Doch die dafür genutzten Modelle berücksichtigen nur Veränderungen bei mittlerem Klima, sie beziehen keine Klimaextreme mit ein. Dabei sind auch Wälder von den zunehmenden Extremen betroffen. So ist zum Beispiel unklar, ob Flächen, die in den Szenarien mit einberechnet werden, künftig überhaupt noch für Aufforstung zur Verfügung stehen. Diese Szenarien sind also möglicherweise zu optimistisch. Deshalb arbeitet unsere Gruppe an einem regionalen Klimaemulator für bestehende Klimamodelle. Damit können Berechnungen für bestimmte Regionen vereinfacht dargestellt und schneller ausgeführt werden, auch bezüglich Klimaextremen. Rückkopplungen könnten dann viel effizienter in die Modellierung von Szenarien eingespeist werden.

Werden Sie am nächsten IPCC-Bericht wieder mitarbeiten?

(Lacht laut auf.) Wenn jetzt nichts geschieht, keine Aktionen folgen und die Emissionen nicht reduziert werden – nein, dann nicht. Ich will sehen, dass der IPCC-Prozess eine Wirkung hat. Entscheidungstragende haben uns gebeten, diese Berichte für sie zu schreiben. Doch wenn sie diese nicht lesen und nichts daraus machen, dann verliere ich den Glauben an den Prozess, dann bringt das nichts.