Die Gamer befassen sich schon heute mit den Herausforderungen von morgen. Das Massenphänomen Videospiel ist längst zum Wirtschaftsfaktor geworden. | Bild: Shana de Neve

Videospieler lösten ein 15 Jahre altes Rätsel und klärten die Struktur eines HIV-Hüllproteins. Damit schafften sie es auf die Autorenliste der Fachzeitschrift Nature. Dabei hatten sie einfach nur versucht, möglichst viele Punkte beim Computerspiel Foldit zu sammeln. Beim ersten wissenschaftlichen Computerspiel, das vor zehn Jahren online ging, geht es darum, die richtige dreidimensionale Form von Proteinen zu entdecken.

Hintergrund: Proteine steuern fast alle Lebensprozesse – bei Mikroben ebenso wie bei Menschen. Doch können sie dies nur, wenn die langen Ketten aus Aminosäuren ihre spezifische dreidimensionale Faltung einnehmen, die zum Beispiel auch als Angriffspunkt für Medikamente entscheidend ist. Zwar können die Wissenschaftler die Abfolge der teils mehreren hundert Aminosäuren recht einfach bestimmen. Daraus
eine Vorhersage über die dreidimensionale Form eines Proteins abzuleiten ist bislang aber kaum möglich. Die Wechselwirkungen zwischen den Aminosäuren sind dafür zu komplex. Forschende arbeiten deshalb manchmal jahrelang daran, die Faltung bestimmter Proteine aufzuklären.

Menschen schlagen die Maschine

David Baker, führendem Proteinforscher der University of Washington in Seattle, wurde in den 2000er-Jahren klar, dass Menschen dreidimensionale Probleme besser lösen können als Computer. Um den menschlichen Verstand einzubinden, setzte er sich deshalb mit Computerwissenschaftlern um seinem Kollegen Zoran Popovic zusammen. Dieser entwickelte mit seinem Team Foldit. 500 000 Spieler registrierten sich über die Jahre.

«Foldit ist nicht nur wissenschaftlich ein Erfolg», sagt Bruno Strasser, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Uni Genf, der sich mit Computerspielen in der Forschung befasst. «Vor allem war es eine Überraschung, dass es tatsächlich Menschen gibt, die ihren Feierabend mit Wissenschaft verbringen möchten.» Das Spiel zählt somit zu den ersten Citizen-Science-Projekten. «Foldit hat die Menge der in der weltweiten Proteinforschung aktiven Menschen vervierfacht», sagt Mit-Erfinder Zoran Popovic. «Das Internet ist ein Superhighway der Möglichkeiten für Menschen, die vorher von der akademischen Wissenschaft ausgeschlossen waren.»

«Es ist sehr schwierig, eine Community von Spielern um ein vergleichsweise langweiliges Spiel aufzubauen.»Bruno Strasser

Wer sich die komplizierten Vorgänge anschaut, die man bei Foldit durchführen muss, merkt schnell: Wer erfolgreich sein will, muss viel lernen. «Das Spiel hat gezeigt, dass Menschen sich auch ausserhalb von Universitäten so viel Wissen aneignen können, damit sie an Spezialisten-Diskussionen teilnehmen können», sagt Strasser.

Die Foldit-Grafik allerdings erinnert eher an Abbildungen in Chemiebüchern und sieht nicht nach Spass aus: Ein kleiner roter Stern, der in einem Gewirr von Ästen und Spiralen hin und her springt, soll Spannung ausdrücken. Bewegt man per Mausklick die dargestellten Aminosäuren, erscheinen mehr Sterne. Das bedeutet, die Seitenäste der Aminosäuren sind zu dicht zusammen und behindern einander: So kann das Protein in der Natur nicht gefaltet sein.

So wie die Oberfläche von Foldit sehr nach den 90er-Jahren aussieht, sind auch die Spieler gealtert. Viele sind mittlerweile über 50. Von den registrierten Nutzern sind nur noch wenige hundert aktiv. Neue Spieler generiert das Spiel meist unter Experten. «Foldit ist nicht so spannend, wie Zombies abzuschiessen», sagt Strasser. «Es ist sehr schwierig, eine Community von Spielern um ein vergleichsweise langweiliges Spiel aufzubauen.»

Bestehendes Spiel gekapert

Einen interessanten neuen Weg beschritt deshalb das Walliser Start-up Massively Multiplayer Online Science (MMOS). Die Schweizer IT-Unternehmer fügten dem Mehrspieler-Internet-Rollenspiel Eve Online, einer Weltraum-Flugsimulation ohne wissenschaftlichen Anspruch, zwei Erweiterungen hinzu. Zum einen können Spieler mikroskopische Aufnahmen von gefärbten Zellen auf auffällige Veränderungen hin untersuchen. Zum anderen können sie Satellitendaten auswerten, um Planeten zu entdecken. Beides läuft unter dem Titel «Project Discovery», und die Spieler können damit Belohnungen generieren, die daraufhin im regulären Rollenspiel verwendet werden können. Eve Online hat 500 000 registrierte Nutzer, von denen jederzeit 40 000 online sind.

Die wissenschaftliche Fragestellung wird so an eine riesige, bereits bestehende Community gegeben. Das ist eine sehr Erfolg versprechende Idee, denn genügend Spieler anzulocken und diese langfristig im Spiel zu halten, ist der schwierigste Teil, wenn man ein wissenschaftliches Projekt mit Gaming lösen will.

Inzwischen gibt es Hunderte wissenschaftlicher Spiele, mit Fragestellungen von Astronomie über Klimaforschung bis zur Insektenkunde. Viele sind grafisch ansprechend, manche animiert.

Die Senior-Gamerin

Eines der wissenschaftlichen Computerspiele mit den meisten Spielern ist Eyewire: 250 000 Registrierungen, 1000 aktive Spieler im Dezember 2017. Der Erfolg des am Massachusetts Institute of Technology entwickelten Spiels liegt wohl auch darin begründet, dass es, soweit möglich, als Videospiel gestaltet wurde. Es soll Spass machen und enthält inklusive fiktionaler Charaktere eine moderne Grafik. Ziel von Eyewire ist, den Verlauf von Nervenzellen in der Netzhaut der Maus zu kartieren. Dazu werden den Spielern Würfel von Abschnitten der Netzhaut zugeteilt, die aus elektronenmikroskopischen Querschnitten bestehen. Aus den flächigen Aufnahmen rekonstruieren die Spieler dreidimensionale Abbilder des Nervenzellgewirrs.

Eine der erfolgreichsten Eyewire-Spieler ist Susanne Reber-Leutenegger (@susi) aus Sissach in der Nähe von Basel. Sie hat kürzlich 30 Millionen Punkte erreicht. Nur ein Spieler, @ Nseraf, ist noch erfolgreicher. «Das Spiel ist sehr befriedigend», sagt die 68-Jährige. «Ich habe einen neuen Sinn im Leben gefunden, indem ich wieder Teil eines wissenschaftlichen Projekts wurde.» Ausserdem habe sie neue Freunde gefunden. Der Kontakt zu jüngeren Menschen in der Eyewire-Community halte sie jung.

«Ich habe einen neuen Sinn im Leben gefunden, indem ich wieder Teil eines wissenschaftlichen Projekts wurde.»Susanne Reber-Leutenegger

Obwohl im Rentenalter, arbeitet sie noch halbtags als Buchhalterin. Sie nennt das ihre zweite Karriere, nachdem sie mit der Promotion in Biologie über die mikroskopische Struktur von Meereseinzellern die erste Karriere abgeschlossen hatte. In den 70er-Jahren arbeitete sie während ihres Biologiestudiums an einer 3D-Rekonstruktion eines Amphibiengehirns. «Damals hatten wir noch keine Hilfe von Computern – alles war Handarbeit. Eyewire ist jetzt eine Art dritte Karriere für mich, die mit der ersten verbunden ist.»

Reber-Leutenegger ist allerdings eine Ausnahme. Die meisten Spieler sind männlich: Beim am besten untersuchten Spiel Foldit sind es 90 Prozent. 80 Prozent sind dort zudem Wissenschaftler, Ingenieure oder arbeiten in der IT-Branche. «Es gibt wenige Spieler, die beruflich nichts mit Wissenschaft oder Computern zu tun haben», sagt Bruno Strasser. «Wir sollten deshalb vorsichtig damit sein, Citizen Science als Demokratisierung der Wissenschaft zu sehen – es kann und will nicht jeder forschen.» Auch sei es übertrieben, die Spieler wissenschaftlicher Computerspiele bereits als Wissenschaftler anzusehen. «Sie tragen etwas zum Erkenntnisgewinn bei, aber eher wie Techniker mit speziellen Fähigkeiten», so Strasser. «Wissenschaft ist viel mehr, vor allem auch die Entwicklung neuer Fragestellungen.»

Doch auch dafür gibt es in der Citizen Science schon erste Ansätze. Mit «mapping for change» vom University College London können Laien entscheiden, welche Luftschadstoffe an welchem Ort in Grossbritannien gemessen werden. Für zuverlässiges Betreuen von Messstationen gibt es Punkte – fast wie im Computerspiel.

Acht Games für die Wissenschaft

MOZAK 2017

  • 400 aktive Spieler / 3000 registrierte Spieler
  • University of Washington
    Spieler verfolgen den Verlauf von Neuronen und erstellen 3D-Modelle von diesen. Ziel ist eine neuronale Karte des Gehirns.

DECODOKU 2016

  • 50 / 3000
  • Universität Basel
  • 1 Publikation
    Spieler lösen Zahlenrätsel. Mit den so gefundenen Lösungsstrategien könnten vielleicht einmal die Fehler künftiger Quantencomputer effizient korrigiert werden.

PROJECT DISCOVERY 2016 

  • 37 000 / 320 000
  • MMOS Monthey
    Spieler lokalisieren Proteine in Zellen und werten Satellitendaten zu Exoplaneten aus.

BIG BELL TEST 2016

  • 100 000 (einmalig)
  • Barcelona Institute for Science and Technology
  • 2 Publikationen
    In einem einmaligen Experiment generierten Teilnehmer durch Spielen eines Videospiels zufällige Abfolgen von Nullen und Einsen, die in quantenphysikalischen Experimenten verwendet wurden.

QUANTUM MOVES 2012 

  • 12 000 / 250 000
  • Universität Aarhus
  • 1 Publikation
    Durch geschicktes Verschieben grafisch dargestellter Atome können echte Atome in der Erforschung von Quantencomputern besser manipuliert werden.

ETERNA 2010

  • 500 / 100 000
  • Carnegie Mellon und Stanford
  • 11 Publikationen
    Teilnehmer entwickeln dreidimensionale Modelle von RNS-Molekülen – die besten werden hergestellt und ihre Eigenschaften mit den Vorhersagen abgeglichen.

EYEWIRE 2012

  • 1000 / 250 000
  • MIT
  • 1 Publikation
    Aus einer Abfolge zweidimensionaler elektronenmikroskopischer Querschnitte einer Maus-Netzhaut erstellen Spieler dreidimensionale Modelle der darin enthaltenen Neuronen.

FOLDIT 2008

  • 500 / 500 000
  • University of Washington
  • 3 Publikationen
    Die Spieler falten dreidimensionale Modelle von Proteinen.

Der Wissenschaftsjournalist Frederik Jötten schreibt unter anderem für Das Magazin und die NZZ am Sonntag. Er wohnt in Frankfurt am Main.