Fast wie im Bundeshaus: Eine Gruppe aus Sitten verfasst gemeinsam eine Stellungnahme zu einer Abstimmung. Die Teilnehmenden wurden per Los gewählt. | Foto: Demoscan

Das Rezept der direkten Demokratie mit einer frischen Zutat verfeinern und damit dem Populismus und der Politikverdrossenheit entgegentreten: Das ist die Idee von sogenannten Bürgerpanels, die Nenad Stojanović, Politologe an der Universität Genf, mit dem Pilotversuch Demoscan im November 2019 in der Walliser Kantonshauptstadt Sitten umsetzte. Zwanzig Personen, die eine statistisch repräsentative Gruppe der Schweizer Bevölkerung bilden, wurden ausgelost und trafen sich an zwei Wochenenden. Ihre Aufgabe: die Argumente für und gegen die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» prüfen und auf zwei Seiten zusammenfassen. Das Resümee wurde dann in der Gemeinde verteilt und ergänzte das offizielle Abstimmungsbüchlein vor der Abstimmung vom 9. Februar 2020.

«Am Ende des Prozesses, nachdem Gutachten und Standpunkte eingeholt und besprochen worden waren, hatten alle das Gefühl, sich eine fundierte Meinung bilden zu können.»Nenad Stojanović

Das Experiment erhielt viel mediale Aufmerksamkeit, das Ergebnis hingegen stiess bisher auf wenig Echo. Für die Auswertung führte Nenad Stojanović Befragungen bei den Panelmitgliedern und bei der Wahlbevölkerung von Sitten durch. «Anfangs waren die Mitglieder des Panels skeptisch, ob sie in der Lage sind, eine in ihren Augen komplexe Materie zu verstehen. Am Ende des Prozesses, nachdem Gutachten und Standpunkte eingeholt und besprochen worden waren, hatten jedoch alle das Gefühl, sich eine fundierte Meinung bilden zu können.» Aber was hielt die Bevölkerung von Sitten davon? «Die Umfragen haben gezeigt, dass das Vertrauen gegenüber dem Panel gleich hoch war wie gegenüber dem Parlament. Für ihre Entscheidung stützte sich die Bevölkerung als zweite Quelle auf den Bericht des Panels, nach der offiziellen Broschüre und vor den Parteiparolen und den Medien.» Zudem scheint Demoscan einen kleinen positiven Effekt auf die Wahlbeteiligung zu haben.

Wahl per Los seit Antike bekannt

Das Experiment erfolgte im Rahmen eines Forschungsprojekts, das den Zusammenhang zwischen direkter Demokratie und Populismus untersucht. «Der Kalender hat uns ein Abstimmungsthema beschert, das nicht besonders repräsentativ ist. Die Gegner der Initiative sahen aber doch Elemente von Linkspopulismus, da der Anschein erweckt wird, dass sich ein grosses Problem ganz einfach lösen lässt – unter einem Titel, dem sich niemand entgegenstellen wird», erläutert Stojanović. Im Laufe des Prozesses hat sich die Panelgruppe in diese Richtung entwickelt. Am Anfang war sie eher unentschieden, lehnte die Initiative schliesslich aber ab. Ein Ergebnis, das sich mit dem Volksentscheid zwei Monate später deckte (57 Prozent Nein). Die Dynamiken, welche die populistischen Elemente in den Beratungen des Bürgerpanels entkräfteten, wirkten wohl auch in der nationalen Debatte.

«Allein mit Panels wird sich das Problem, dass sich die Menschen durch die Politik nicht repräsentiert fühlen, nicht lösen lassen.»Yves Sintomer

Die Idee, politische Entscheidungsgruppen durch das Los zu bestimmen, wird heute zum Teil als Modetrend abgetan, ist jedoch seit der Antike bekannt. Die Kopplung mit Elementen der direkten Demokratie wurde in den letzten zehn Jahren im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon, im kanadischen British Columbia sowie in Irland erprobt. Der französische Politologe Yves Sintomer, Autor mehrerer Bücher über innovative Formen der partizipativen Demokratie, sieht darin ein vielversprechendes Konzept. «Das unter nahezu idealen Bedingungen beratende, ausgeloste Panel ist eine Antwort auf die häufige Kritik, dass die direkte Demokratie eine Spielwiese für rhetorische Diskurse und wenig fundierte Positionen bietet.» Ausserdem erhielten Bürgerpanels, deren Rolle sich bisher oft auf die Beratung der Behörden beschränkt habe, «durch diese Verankerung in der direkten Demokratie eine Legitimation durch die Bevölkerung. Als Allheilmittel sind die Panels indes nicht zu betrachten, «denn damit allein wird sich das Problem, dass sich die Menschen in den westlichen Demokratien durch die Politik nicht repräsentiert fühlen, nicht lösen lassen».

Nach der Experimentierphase besteht die Herausforderung gemäss Yves Sintomer nun in der Institutionalisierung, «damit die Umsetzung dieses Verfahrens nicht von den guten oder schlechten Absichten der zuständigen Behörden abhängt». In der Schweiz finden die nächsten Experimente, in die die Erfahrungen von Sitten einfliessen werden, im November 2020 in Genf und im Frühjahr 2022 in einem deutschsprachigen Kanton statt.